WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

Beethoven an Struve 1795

Wir haben es schon mehrmals erzählt: als Rousseau sechzehn Jahre alt war, warf er seine, man kann vermuten, wertvolle Uhr weg. Sein Vater war ein international hoch geachteter Uhrmacher, der kurz vor der Geburt Jean-Jacques‘ aus Konstantinopel zurückkam, der seinen Sohn über alles liebte und ihm Mutter und Vater zugleich sein wollte, da die Mutter im Kindbettfieber gestorben war.

Der junge Rousseau war zum dritten Mal verspätet am Stadttor von Genf angekommen und das hätte ihm wieder eine Prügelstrafe eingebracht. Also warf er seine Uhr weg, obwohl ihm klar sein musste, dass die Uhr nicht Ursache der Prügel, sondern nur ihre Projektionsfläche war. Und zugleich verließ er seine Familie, seinen Lehrherrn und seine Heimatstadt, um nie wieder zurückzukehren, obwohl ihm die Stadt, nachdem er berühmt geworden war, einen lukrativen Posten angeboten hatte. Die Abhängigkeit der Stadtverfassung, überhaupt der Ordnung dieser Gesellschaft von der Zeiteinteilung, erinnert sehr an die heutige Abhängigkeit von Daten und Terminen.

Der Grund für seinen Ruhm war seine preisgekrönte Abhandlung über die Ungleichheit der Menschen. Darin steht seine Ansicht, dass die Menschen böse seien, wofür man keinen Beweis brauche, weil die Erfahrung es lehrt, obwohl der Mensch an sich gut sei. Damit setzte er sich zwischen Baum und Borke, zwischen die herrschende Kirchenansicht von der Sündhaftigkeit des Menschen und die soeben aufkommende Aufkläreransicht vom ewigen Fortschritt des Menschengeschlechts durch Denken.

An dieser Stelle schon ist Rousseau absolut modern. Er sieht das Übel in Neid und Gier, in dem ständigen Vergleich der Menschen untereinander und der daraus folgenden Habsucht. In seinem noch berühmteren Buch über die Erziehung (‚Émile‘) wird er zeigen, wie man diese erworbene Bosheit der Menschen verhindern könnte. Aber auch die heutigen Schulpolitiker streiten sich lieber jahrzehntelang über Punkt- und Notensysteme, obwohl jeder weiß, dass sie eines der Übel sind.

In seinem allerberühmtesten Buch aber (‚Der Gesellschaftsvertrag‘) lesen wir, dass alles am Menschen, bis auf das Verhältnis zu den Eltern, Vereinbarung ist.

Rousseau hat sozusagen das erste Allmendedilemma entdeckt: die Aufteilung des vorher gemeinschaftlich genutzten Landes in Parzellen des Unglücks und der Gier.

Im zweiten Allmendedilemma [Garrett Hardin, 1968] wird eigentlich umgekehrt beschrieben, wie der gemeinschaftliche Nutzen durch die geheime und zunächst unmerkliche Gier des einzelnen torpediert wird. Allerdings wurde über dieses Problem lange nachgedacht, und schon Aristoteles wusste, dass demjenigen Gut, das die meisten nutzen, am wenigsten Fürsorge zuteilwird. Und wir, die wir im Ostblock gelebt haben, wissen das auch.

Beethoven wird das alles von Rousseau gelesen und sich gewundert haben, dass siebzehn Jahre nach Rousseaus Tod sich nichts geändert hat. Zwar wusste Beethoven, dass es tausend Adlige gibt, aber nur einen Beethoven, so dass klar war, wer vor wem den Hut zu ziehen hatte (Karlsbadanekdote), jedoch wusste er auch, dass Sklaverei und Krieg, Hunger und Cholera zur vermeidbaren Ungleichheit der Menschen beitragen. Napoleon war als Hoffnung der Menschheit ein Ausfall, über den sich Beethoven so sehr ärgerte, dass er die Widmung seiner dritten Sinfonie zurückzog.

Und zweihundertfünfundzwanzig Jahre nachdem Beethoven an seinen Jugendfreund Heinrich von Struve, der später russischer Botschafter in verschiedenen deutschen Staaten und als Mineraloge Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften war, gibt es zwar weniger Hunger und mehr Bildung, aber immer noch mindestes dreifache Unterdrückung: Rassismus, Klassismus und Sexismus. Im Moment erleben wir sogar eine unerwartete Wiederkunft dieser Repression in autoritären Parteien und Herrschaften. Im Fußballstadion werden Menschen beleidigt, die vier oder fünf Millionen Euro im Monat verdienen, von Subjekten (wie man früher verächtlich sagte), die wahrscheinlich monatelang für die Eintrittskarte ins Stadion sparen müssen.

Man kann das empörend oder unverständlich finden, aber Beethoven hat darauf mit Leuchttürmen geantwortet, wo heute so viele ins schwarze Loch der Jammertäler fallen. ‚Jammertal‘ ist der barocke, religiös* gefärbte Begriff für die schlechte Welt.

Natürlich und zum Glück können nicht alle Sinfonien oder Romane schreiben, aber ein erster Schritt wäre schon einmal, mit dem ständigen Empören und Flennen aufzuhören. Die Welt mag als schlecht empfunden werden, aber sie wird nicht dadurch besser, dass man täglich in die Welt hinausschreit, dass die Welt schlecht ist. Einer möglichen Inflation von Sinfonien und Romanen steht der Mangel an Talent gegenüber, dem Jammern muss man allein widersprechen.

Das Tripelkonzert von Beethoven nimmt unter seinen Konzerten (fünf Klavier- und ein Violinkonzert, das er selbst auch für das Klavier transkribiert hat) eine Sonderstellung ein. Konzert heißt ja ohnehin eine Art nachgeahmter Kampf oder Wettbewerb zwischen dem Soloinstrument und dem Orchester. Hier aber bemühen sich drei Soloinstrumente nicht um die Vorherrschaft, sondern um die Öffnung. Einerseits wollen sie sich gegenseitig öffnen, ihre Differenzen und Hegemonialvorstellungen vergessen, andererseits zeigen sie ihre Herkunft aus dem und ihre Zukunft im Orchester. Mehrmals scheint das Konzert auseinanderzubrechen, um aber spätestens im zweiten wunderbaren Satz harmoniesüchtig zu werden.

Wenn er oder sie auch keine Sinfonien und Konzerte schreiben kann, so kann der moderne Mensch doch vielfältig kreativ werden** und das SIND auch sehr viele von uns. Es ist gleich gültig, ob man in einem Hilfsverein tätig ist, in einer Tauschbörse oder in einem Laienchor. Es geht darum, die knappe Lebenszeit für sich und andere nutz- und freudebringend anzuwenden. Werfen wir endlich die Uhr oder das SMARTPHONE weg und wenden uns dem Buch, dem Lied, dem Mitmenschen zu. Fast unbemerkt ist unter all diesen üblen Schimpfworten, mit denen wir uns anscheinend zunehmend belegen, ein ganz anderes Wort Mode geworden (‚was die Mode streng geteilt‘***), nämlich Empathie. Das ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen, ihr Leid, ihre Freude, ihre Langeweile oder ihre Aufgeregtheit nachzuempfinden und daraus Schlüsse für mögliche Hilfe oder Mitarbeit zu ziehen. Öffnen wir die symbolischen und tatsächlichen Stadttore, die Grenzen, die immer Beschränkungen sind, die Herzen, die soviel Streben nach dem Ego in sich zu haben scheinen und doch erst aufblühen, wenn Kinderlachen oder Greisentränen Dankeshymnen singen. Aber man muss sich auch in sich selbst hineinfühlen: some dreams die when they can be realized.

*flentes in hac lacrimarum valle = weinend in diesem Tal der Tränen, woher auch unser Kinderausdruck des Flennens kommt

**becoming a begetter would make you a bit better

***Schiller, Ode an die Freude in Beethovens IX. Sinfonie

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berridraun

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Frank und frei

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