Diktaturen funktionieren nur abstrakt, konkret müssen sie versagen: die Planwirtschaft mag logisch sein, die Bedürfnisse kann sie nicht befriedigen. Leider erklärt sich so auch, warum Kim Jong Un seinen Onkel, angeblich mit einer Kanone, erschießen ließ, warum Stalin und Hitler ihre eigenen Leute umgebracht haben. Der konkrete Mensch passt nur dann in die Schablone, wenn Loyalität über die Kompetenz und über die Solidarität gestellt wird. Auch die technizistische Sprache der Diktaturen ist so zu erklären: der Mensch ist nur wert, was er als Maschinenteil im Apparat taugt. Dies wurde zuerst von Klemperer* beschrieben und wird nach wie vor nicht beherzigt, indem wir immer noch die Sprache der Täter imitieren, angeblich um die besondere Grausamkeit oder die Einmaligkeit der Verbrechen zu betonen. Tatsächlich wird hinter technizistischen Begriffen der Mensch eskamotiert: das Opfer verschwindet in einer undefinierbaren Masse, die ‚vernichtet‘ wird, so die Sprache der Täter von der Wannsee-Konferenz bis zu den Aufzeichnungen des Auschwitzkommandanten Höß, der sich als einer der Haupttäter ebenfalls hinter der Technik verstecken kann: als das berüchtigte Rädchen im Getriebe. Schon das Wort ‚Judenvernichtung‘ besagt, dass nicht ein Mensch einen Menschen von Angesicht zu Angesicht ermordet hat, auch die Hinzufügung der Gründe der Täter – ‚Rassismus‘ – ändert daran nichts: denn es gibt keinen Grund, der uns erlaubt, einen Menschen zu töten**.

Warum also entschuldigen wir nachträglich die Täter, indem wir sie zu industriellen Systemteilen erklären, die nich anders konnten, als so zu handeln wie es jeder Menschlichkeit, jeder Religion und jeder Philosophie, nicht aber jeder Ideologie widerspricht? Ein Mensch kann nicht vernichtet werden, weil er – außer in der Gesellschaft – auch in seiner Familie, in seinem Freundeskreis, in seinem Arbeitskollegium, in seiner Wohnsiedlung als Mensch fortlebt. Es war nicht die Politik oder die Gesellschaft als Ganzes, die uns mit dem Projekt der Stolpersteine bildlich vor Augen führt: wer hier einmal gelebt hat, lebt in unserer Erinnerung fort. Streng genommen wird sogar nichts zu nichts. Es fehlt ein neues Buch von der Qualität und Reichweite der LTI.

Was nicht fehlt, sind Bücher und Filme zu den Diktaturen, in denen unsere Ahnen als Täter oder Opfer agierten, der neueste Film zitiert als Titel eine Zeile der später verbotenen DDR-Hymne ‚…und der Zukunft zugewandt…‘. Das heißt in dieser Geschichte: auf jeden Fall der Vergangenheit abgewandt. Drei Frauen waren in Workuta, in einem der GULAGs, obwohl und wohl weil sie Kommunistinnen waren. In einem benachbarten Lager ist der Mann von Antonia Berger inhaftiert – und jedes dieser Wörter ist ein Euphemismus – und er überwindet Stacheldraht und Wachmannschaften, strömender Regen hilft ihm etwas klischeehaft, um seiner kranken Tochter zum Geburtstag zu gratulieren. Auf dem Rückweg wird er erschossen, obwohl er auf seiner Kompetenz als Ingenieur der Moskauer U-Bahn insistiert. Ihm wird ein Mangel an Loyalität unterstellt, und deshalb sind er und seine kleine Familie, wie auch alle anderen Häftlinge, aus dem Zirkel der allgemeinmenschlichen Solidarität ausgeschlossen.

Auf Intervention des in der Bevölkerung wohlgelittenen, in Wirklichkeit aber arg stalinistischen Staatspräsidenten Pieck werden die drei Frauen vorzeitig entlassen und kommen nicht nur in der DDR, sondern in der ersten sozialistischen Planstadt an: Fürstenberg an der Oder, das bald darauf in das unaussprechliche Stalinstadt, dann in das noch widersetzlichere Eisenhüttenstadt umbenannt wurde. Zum zweiten Mal zeigt sich unsere These vom Versagen der Diktatur im Konkreten in der ersten Krankenhausszene: das sterbende Kind in den Armen der ausgemergelten Mutter wird als erstes nach dem Sozialversicherungsausweis gefragt, der analogen Krankenkassenkarte. Der Arzt ahnt Schreckliches, als er die hochgradigen Erfrierungen sieht, und er greift im Geheimschrank nach dem Penicillin aus amerikanischer Produktion. Die Liebesgeschichte zwischen dem Arzt und der durchaus der Zukunft zugewandten Antonia geht tragisch aus, sie erkaltet im kalten Krieg und wird als telefonische Freundschaft bis zum Mauerfall fortgesetzt.

Antonia, die auch ihrer Mutter nicht sagen kann, wo sie die letzten zehn Jahre war, scheitert immner wieder am Konkreten und rettet sich immer wieder in die Abstraktion des Kommunismus. Auf diese Abstraktion der fernen Zukunft beruft sich auch der Agitationssekretär Silberstein, ein durchaus sympathischer und durch seine mögliche Herkunft aus einer jüdischen Familie noch mit einem zusätzlichen Bonus versehener Altgenosse, der zwar mehrmals den Ausgleich oder den Kompromiss zwischen den beiden Ebenen des Lebens sucht und versucht, letztlich aber doch zum Telefon greift und die Staatssicherheit beauftragt, Antonia im Konkreten endlich umzudrehen. Jeder – auch die Protagonisten im Film - versteht die Situation: ein Mann mit Hut und Mantel klingelt an der Tür, zeigt seinen Ausweis und nimmt Antonia mit.

Der Verhörer glaubt, nur er sei im richtigen Lager gewesen und nur die Qualen, die er ausgehalten hat, und die allerdings wirklich furchtbar und unvorstellbar waren, berechtigten ihn, jetzt andere Menschen zu befragen und zu quälen. Allerdings lenkt er ein, eine Intervention von außen kommt in Gestalt des Sekretärs Silberstein. Antonia sollte nicht schon wieder verschwinden, sondern nur ernsthaft verwarnt werden. Das gelingt auch, sie vernichtet ihre Aufzeichnungen aus dem Lager und glaubt, vielleicht hofft sie auch, dass damit auch das Lager selbst verschwindet.

Es gab – wenn auch vielleicht wenige - Menschen, die in beiden Arten Lagern inhaftiert waren, zwei davon sollen hier als Beispiele genannt werden, Margarete Buber-Neumann und Erich Reschke. Margarete Buber-Neumann heiratete nach ihrer Scheidung vom Sohn des Religionsphilosophen Buber den Führer der linksradikalen Fraktion der Kommunistischen Partei Deutschlands und Kontrahenten Ernst Thälmanns, Heinz Neumann. Seine Radikalität bestand darin, als den Hauptfeind der KPD und der gesamten Gesellschaft die Nationalsozialisten zu erkennen und benennen, während Thälmann gemäß den Weisungen Stalins die SPD als den Hauptfeind bekämpfte. Neumann wurde 1938 in Moskau erschossen, seine Frau interniert, später wurde sie nach Deutschland abgeschoben – auch eines dieser Wörter aus dem Thesaurus der Täter – und im KZ Ravenbrück gefangen, wo sie Zeuginnen Jehovas, der Freundin Kafkas, Milena Jesenska, und der Witwe Stauffenbergs half und der Witwe Thälmanns begegnete. Erich Reschke dagegen war zwölf Jahre lang KZ-Häftling, lange in Buchenwald, und dort war er Lagerältester, also Chef der von der SS installierten und tolerierten Selbstorganisation der Häftlinge. Als solcher wurde er von Bruno Apitz in dessen berühmtem Buch ‚Nackt unter Wölfen‘, das man nicht wörtlich und als Erlebnisbericht, sondern eben als Roman verstehen muss, als einer der Hauptakteure bei der Rettung des Kindes gezeigt. Heute wissen wir, dass die Rettung durch einen Austausch auf der Auschwitz-Transportliste zustande kam. Erich Reschke wurde von den Amerikanern befreit und hatte den unterstützenden Aufstand der Häftlinge mit organisiert. Wahrscheinlich deshalb wurde er einer der ersten Generäle der Volkspolizei, bis es eines Tages an seiner Wohnungstür klingelte und sich die berüchtigte Szene tatsächlich abspielte, die der Film so realistisch zeigt. Reschke wurde wegen angeblicher Spionage oder dergleichen zu lebenslanger Lagerhaft verurteilt, musste aber nur bis zum Lebensende von Stalin – was? – büßen. Danach lebte er als Leiter eines Gefängnisses (!) und dann Frührentner, von Honecker spät mit dem Karl-Marx-Orden rehabilitiert, in Hohen Neuendorf bei Berlin.

Uns geht heute leicht von den Lippen: das ist eine Diskrepanz zwischen dem Abstrakten der Diktatur und dem Konkreten des menschlichen Daseins. Aber jeder Mensch lebt nur einmal.

Neben einer faszinierenden Alexandra Maria Lara in der Hauptrolle und neben Robert Stadlober als bewundernswertem und von Antonia bewunderten Chefarzt, brilliert aber auch Barbara Schnitzler als die abtrünnige Genossin, die mit ihrer Ankunft in der von vornherein verlogenen DDR nicht mehr Genossin sein möchte, die sich den Mund nun und nimmermehr verbieten lassen will. Die dritte Leidensgenossin, gespielt von Karoline Eichhorn, ist für immer desorientiert und aller sozialen Kontakte – mit Ausnahme Antonias und des Rotweins – beraubt. Wenn es einen deutschen Oskar für die beste Nebenrolle gäbe, bekäme ihn von mir Hark Bohm in der Rolle des Vaters, der seinen Sohn, den Zonen-Chefarzt in Stalinstadt, zurück nach Hamburg holen will, um dort, so wie es Recht und Ordnung gebieten, die Praxis zu übernehmen. Er versteht die Welt nicht mehr. Verstehen wir sie denn?

Die titelgebende Textzeile aus der Nationalhymne Ostdeutschlands, zu dem Zeitpunkt der Fimerzählung war sie noch nicht verboten, wird damals von vielen als frohe Botschaft angenommen worden sein. Der Dichter musste sich allerdings mit Morphium benebeln und betäuben, um die Diskrepanz zwischen der von ihm erdichteten und der um ihn herum errichteten Welt aushalten zu können. Seinen fortwährenden toxischen Rauschzustand kann man wunderbar nachvollziehen, wenn man sich bei YouTube ansieht, wie er dressierten Jungen Pionieren erzählt, dass Walter Ulbricht der größte Sohn des deutschen Volkes sei.

*LTI (Lingua Tertii Imperii), Die Sprache des Dritten Reiches

**traditionell gab es fünf Ausnahmen: Krieg, Todesstrafe, Tyrannenmord, Selbstmord, Abtreibung, von denen heute eigentlich nur noch der Selbstmord als legitim erscheint und die Abtreibung als historische Übergangslösung geduldet wird. Für diese beiden verbliebenen Ausnahmen gilt, dass man sie weder billigen noch nicht billigen kann.

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berridraun

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Kai-Uwe Lensky

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