Elfter Hauptsatz
Denn wo viel Weisheit ist
da ist viel Grämens
und wer viel lernt
der muss viel leiden Salomo
Der Satz klingt auf den ersten Blick wie die abgestandene Resignation eines Teilweisen oder wie amerikanische Billigkritik und Fastmalice an den Intellektuellen. Die Quelle mag ein pessimistischer König oder sein gequälter Ghostwriter sein, auf den zweiten Blick stellt sich der Satz als viel tiefer heraus, als er ist. Denn das Grämen geht zunächst der Weisheit voraus. Das Lernen als Investition sowohl für Problemlösungen als auch für ein glückliches Leben zu begreifen, fällt naturgemäß schwer, da es überwiegend in der Periode des Lebens stattfindet, die zwar nicht natürlich glücklich, aber doch eher unbeschwert ist. Nie ist die Langeweile angenehmer ausgefüllt als in der Jugend. Selten wird Lernen als so quälender und störender Prozess empfunden als dann, wenn es am leichtesten fällt. Je mehr Geld es auf der Welt gibt, desto mehr Menschen glauben, dass es möglich sein muss, dessen Erwerb zu minimieren, seinen Anteil jedoch zu maximieren. Hinzu kommt, dass zweihundert Jahre lang sogenannte Beweise und Fakten für Weisheit gehalten wurden. Genau diese Fakten aber sind nie schneller zu erlangen gewesen als gerade jetzt. Jugendliche können ihr Smartphone schneller bedienen als ihre Lehrer sich räuspern. Aber selbst wenn man die ganze Welt verlinken könnte, erlangte man doch keine Weisheit. Weisheit ist eine Kombination aus Zusammenhängen und Güte. Selbst Wissen ist nicht additiv, sondern zumindest kumulativ, wenn nicht exponentiell. Zudem ist Weisheit, und das ist eine Binsenweisheit, nicht an Faktenwissen oder gar Abschlüsse gebunden, sondern eher an Geist, Erfahrung und Gefühl. Geist, Erfahrung und Gefühl aber widersprechen jeder Verankerung oder Verlinkung. Verankert ist ein Fakt in einem kohärenten Weltbild, verlinkt ist ein Fakt, der durch äußere oder innere Merkmale Zusammenhänge oder Scheinzusammenhänge herstellt oder herzustellen glaubt.
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Es ist also schon einmal das Lernen selbst gemeint, das Leiden nicht hervorbringt, sondern begleitet. Noch besser ist es umgekehrt gesagt: das Leiden wird vom Lernen begleitet. Zwar geht von Weisheit auch tiefe Befriedigung aus, aber das Lernen ist eher lästig als befriedigend. Diese Belästigung durch das Lernen nimmt in dem Maße zu, wie die Faktenbeschaffung sich beschleunigt. Man könnte sagen: je länger das Suchen dauert, desto befriedigender ist das Finden, und umgekehrt, wo man nicht mehr suchen muss, freut man sich auch nicht über das finden. Das ist die eine Seite des Trugschlusses. Die andere Seite ist die Beliebigkeit von Wissen, nicht aber von Weisheit. Folgt man im Internet einer Spur, so ist es nicht die Spur des Wissens oder gar der Weisheit, sondern es ist die Spur von Filtern und Filtern der Filter. Der Einwand, dass das früher auch nicht anders war, wo der Weisheit suchende Wanderer etwa von Kloster zu Kloster ging, kann leicht entkräftet werden mit dem Hinweis auf die Mühe, die Zeit, die Kraft und die Muße, die der damalige Wanderer aufwenden musste oder gewann. Heute gewinnen wir Zeit, um sie zu verschwenden. Früher verloren die Menschen Zeit, die sie dann, als Sinn des Lebens zurückzuerhalten glaubten. Es ist die Zeit, die uns Angst macht. Es ist die Angst, die uns antreibt. Jedes Problem hat keine Lösung. Jede theoretische Lösung ist ein Dilemma, jede praktische eine Katastrophe.
Dass das Leben trotzdem nicht nur weitergeht, sondern schön ist, liegt daran, dass es Höheres gibt als Wissen, nämlich Weisheit und Vertrauen. Vertrauen wiederum gibt es zunächst in einer allgemeinen Form, nämlich als Glauben oder schnelles Denken. Dass die Ungläubigen keine Hilfe haben, heißt doch nur, dass Unglauben nicht hilft, nicht mehr: das ist die Hölle. Das waren früher verankerte Sätze, heute sind sie verlinkt, gleichviel. Ein Satz wirkt nur, wenn man ihn denkt.
Ach, was macht uns alles Angst, und wir leben schon seit zwei Millionen Jahren weiter. Aber nicht, weil wir etwa unbesorgt wären, sondern im Gegenteil, weil wir die Weisheit und das Grämen, den Glauben und den Unglauben aushalten, das schnelle Denken und das langsame Denken, welches für das wirkliche Problemlösen notwendig ist. Die größte Lösung war wohl, dass wir evolutionär aus der zur Fortpflanzung notwendigen Sympathie die Liebe machen könnten, die die zweite und konkrete Erscheinungsform des Vertrauens ist. Es gibt keine Weisheit ohne Liebe. Hass macht nicht nur hässlich, sondern auch dumm.
Der Text des pessimistischen Königs Salomo, ob er nun von ihm selber oder seinem Lieblingsintellektuellen stammt, ob er nun der Auftraggeber oder der Ideennehmer war, ist also keineswegs pessimistisch. Er wendet sich gegen das reine Wissen und gegen das Unwissen gleichzeitig. Einerseits gibt er die Richtung vor: obwohl Wissenerwerb mit Leiden verlinkt ist, ist Wissen die Vorbedingung für Weisheit. Und obwohl Weisheit mit Grämen verbunden ist, wenn sie reine intellektuelle Reflexion bleibt, also die Überprüfung der Welt nach Sätzen, die selbst nur die Welt gespiegelt haben, ist sie höchst anstrebenswert. Allein ihre Menge wird in dem Satz des Salomo als wünschenswert gesehen. Sie muss mit der Zuwendung zum Menschen gekoppelt werden, damit das Grämen durch die Liebe aufgehoben werden kann.
Es sind die Weisen, die wir fragen. Es sind die Weisen, die uns immer wieder in Erstaunen versetzen durch ihre Güte, und was wäre Güte anderes als Weisheit gekoppelt mit Liebe. Surfen bleibt ein Gleiten über Sätze, meist noch nicht einmal dies, sondern nur über Zahlen und dürre Fakten. Wandern dagegen ist ein nachhaltiges Fortbewegen, das keinesfalls erfolgsorientiert sein muss. Vielmehr versteckt sich der Erfolg oft hinter dem Leid, über das wir uns gerne grämen, statt uns über den Erfolg zu freuen. Wandern, wie so viele Begriffe, sollte immer gleichzeitig faktisch und metaphorisch verstanden werden. Beides ist nachhaltig, beides bringt uns voran, beides lässt uns die Angst vor der Zeit, vor der Erkenntnis, vor dem Dilemma oder gar vor der Katastrophe, heute gerne Absturz genannt, vergessen. Auch vergessen ist Weisheit.