Unter meinen Lesern sind auch Schreiber, und einer schrieb: es scheint so, dass, da es immer mehr Menschen gibt, der Sinn nicht für alle reicht. Das kann man nicht ausschließen. Es kann auch Ironie sein und Verspottung von Inhalten, die gar zu mechanistisch dargestellt werden. Gern vergleichen wir uns auch mit Computern, und da könnte es sein. dass der Speicherplatz eng wird oder die Festplatte einen Sprung hat.
Der Zuwachs der Welt an Menschen ist tatsächlich erstaunenswert und unglaublich. Viele von uns verstehen nicht, dass eine gleiche absolute Zahl von Beteiligten 1950, 2000 und schon 2020 ein anderes Verhältnis zur Gesamtzahl bedeutet. So werden immer wieder die absoluten Zahlen etwa der Flüchtlinge nach dem zweiten Weltkrieg oder der Hungernden oder der Analphabeten zur Weltbevölkerung ins Verhältnis gesetzt, und man bemerkt nicht oder nur schwerlich, dass es immer weniger werden. Stellt man sich also den Sinn als einen endlichen Pool vor, so könnte man tatsächlich glauben, dass es eng wird. Aber die wachsende Anzahl von Menschen hat auch mehr Freizeit, mehr Bildung, mehr Kommunikationsmittel, eine weitaus höhere Mobilität und vor allem einen permanenten Zugang zur Kunst.
Adorno meinte, dass ein Leben, das Sinn hätte, nicht danach fragte. Der Satz ist etwa so sinnvoll wie der, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Es gibt kein richtiges Leben, wissen wir heute, falsch sein ist keine Entschuldigung, und Sinnsuche ist keine rationale, ein für allemal abgeschlossene, bilanzierbare Angelegenheit. Selbst die großen Sinngeber des zwanzigsten Jahrhunderts müssen sich Kritik an ihren eben auch immer zeitgeistbedingten Handlungen gefallen lassen. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob das Werk den Schöpfer entschuldigt. Wer wirklich denkt, stellt sich und seinen Sinn täglich in Frage und versteht langsam, dass Leben keine Schiene und kein Stellwerk, sondern ein Gewirr von Schienen, Weichen, Stellwerken, Abstürzen, zu vollen Speichern, zu leeren Speichern, unverschuldeten Katastrophen und verschuldeten Katastrophen, von Schuld und Schulden, aber auch von unvermutetem Glück, von Liebe Glanz und eben Sinn ist. Weil manchmal etwas plötzlich einen Sinn erhält, den es vorher nicht hatte, glauben wir insgeheim und immer wieder gern an den großen Demiurgen, den Gott der Ameisen, der jede einzelne Bewegung, wie ein großer, großer Marionettenspieler in der Hand hält. Andererseits verwenden wir das Bild von den Marionetten auch gerne, um Menschen, die offensichtlich von Drahtziehern, die es dingfest zu machen gelte, gelenkt und geleitet werden, zu diskreditieren. Das sind immer die anderen. Wir selbst, meist schrumpft das Wir auch noch zum Ich, wir selbst sind die einzigen Realisten weit und breit, allenfalls denken noch jene realistisch, die uns Beifall klatschen. Auch das Wort Claqueure kann uns nicht abschrecken und von unserem Aberglauben an uns selbst abhalten. Andererseits kann man ohne Glauben nicht leben, und man wird hinnehmen müssen, dass er teilweise Aberglauben ist. Zum Schluss zeigt sich vielleicht, dass gar nicht der Glaube oder der Aberglaube das entscheidende waren, sondern die aus ihnen gewonnene Zuversicht.
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Selbst bei einer winzigen Erdbevölkerung in grauer Urzeit ist die Verfügbarkeit von Kunst gering gewesen. Felszeichnungen, Trommeln, Oraltur* – all das war nicht allgegenwärtig, sondern wurde durch Nahrungssuche, Katastrophen, Geburt und Tod, also durch die Basics des Lebens nicht unterbrochen, sondern unterbrach das Leben: der Sonntag war geboren. Heute dagegen vermögen weder Basics noch Katastrophen den Dauerfluss der Geschichten zu unterbrechen, der auf tausend Medien eben nicht mehr unterbrechbar ist.
Es gibt nicht weniger Sinn oder mehr Unsinn, sondern weitaus mehr Ausweichmöglichkeiten als je gedacht. Der Taugenichts, den sich der Romantiker Eichendorff ausdachte, fand seinen Sinn im Nichtstun, im bloßen Spaß der Italienreise. Heute ist die Mobilität selbst in den entlegensten Winkeln der Welt eine Selbstverständlichkeit geworden. Klapprige Busse holpern durch alle Länder und durch alle Dörfer der weiten Welt. Niemand wird mehr als Taugenichts verurteilt, der Sinn oder Unsinn woanders sucht. Ein Junge aus einer türkischen Familie in Berlin, der in der Schule genötigt wurde, den Taugenichts von Eichendorff zu lesen, klappte das Buch schon nach der ersten Seite mit den Worten zu: ‚Mein Vater liebt mich viel zu sehr, als dass er mich aus dem Haus werfen könnte.‘ Niemand muss mehr Müller werden, der das nicht will oder kann, aber jeder kann Müller werden, der weit genug zu gehen imstande ist. Der Taugenichts hat sich umgedreht.
Sinnsuche war eine ziemlich elitäre Angelegenheit, die einerseits heute durch die Anwesenheit von Kunst erleichtert wird, andererseits aber aus demselben Grund nicht mehr sehr nötig erscheint. Die Arbeitsteilung, die sich früher eher auf die Grundversorgung bezog, scheint heute auch den Sinn, die Bildung, die Religion erfasst zu haben. Der entbettete Mensch** trifft auf ein Überangebot von Geschichten. Nur noch die Kunst und die schlechte Nachricht sind allgegenwärtig. Insofern ist die Sinnsuche exklusiv geworden. Sie ist nicht mehr einer gebildeten oder vermögenden Elite vorbehalten, sondern einer sich selbst auswählenden Minderheit.
Das ist die Minderheit der Produzenten jener Gegenstände und Gedanken, die nicht von Maschinen oder Traditionen stammen. Die Freiheit, die früher als ein fast unerreichbares Ideal erschien, hat sich in unser Leben geschlichen. Allerdings ist auch sie kein Konsumartikel, sondern ein Luxus wie der Gedanke. Sinn ist so schwer zu finden wie früher, aber nicht, weil er sich rarmacht, sondern weil er überbordend in den abertausend Geschichten findbar wäre, wenn denn jemand suchte.
Angeblich wird weniger gelesen, aber jeder zehnte Lebensratgeber, oft auch als Diätbuch getarnt, wird zum Bestseller. Dann sitzt die ganze Nation im überfüllten Regionalexpress, liest dieselben Ratschläge, handelt ein paar Wochen danach, um sich der nächsten Mode zu ergeben. Das ist nicht etwa neu, sondern nur inflationär.
Vielleicht wird eines Tages Alleinsein und Sinnsuche modern.
*oder Oralliteratur
**nach Charles Taylor