Wenn jeder die Schuld bei sich suchen würde, wären die Täter schnell gefunden. Selbstverständlich ist man nicht an allem schuld, aber an viel mehr, als man anzunehmen bereit ist. Ob wir es glauben oder nicht: wir sind die Wähler der Regierung oder die Nichtwähler der anderen Regierung, wir sind die Konsumenten, wir sind auch die Produzenten. Wir sind auch die Produzenten jenes Mülls, den wir nicht vor unserer Haustür verbrennen lassen wollen. Wir sind auch die Kinder jener Eltern und die Eltern jener Kinder, deren Heim wir nicht in unserer Straße haben wollen, weil andernfalls der Wert unsrer Häuser sinkt. Es ist uns nicht klar, dass der Wert unserer Häuser unsere Kinder sind. Der Grund, dass auf der einen Seite Bausubstanz verkommt, um auf der anderen Seite Papphäuser und grauingraue Sichtbetonfassaden zu bauen, sind wir.
Geld kann doch nur immer wieder versuchen, die Welt zu regieren, weil wir uns nicht regieren wollen. Auch Dinge eignen sich, geliebt zu werden und uns dominieren zu wollen. An Hitler mag auch unsere schlechte Erziehung schuld gewesen sein, aber haben wir uns ihr widersetzt?
Zu denken, dass die anderen schuld sind, ist nicht nur leichter zu ertragen, sondern immer auch Konsens mit den anderen, die ja wieder andere meinen. Auch hier ist es so: der Zeitgeist sind wir selbst, deshalb heißt er ja auch so.
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Wenn es jetzt so scheint, dass die Botschaft zweitausend Jahre lang nicht gehört wurde, so ist dieser Eindruck doppelt falsch. Einmal ist die Kohärenz christlichen Denkens höchstens anderthalbtausend Jahre alt, wahrscheinlich denken die Menschen aber erst seit der Reformation und der Verbreitung gedruckter Bibeln und Kommentare über einzelne Sätze nach. Zum anderen, und das wird noch viel mehr und leichter übersehen, hat sich ganz viel geändert. Zwar gab es in Europa zwei dreißigjährige Kriege, aber sie sind auch eher die Ausnahme gewesen. Gleich nach dem zweiten Krieg (1914-1945) fand aber das Wunder einer krieg- und gewaltlosen Befreiung eines riesigen Volkes unter einem jesusanalogen Führer statt. Europa hat sich endlich, ohne die Herrschaft einer Staatskirche, auf seine Wurzeln als christliches Abendland besonnen. Seine Anziehung, sicher mehr aus wirtschaftlichen als politischen Gründen, ist so groß, dass die eigenen unaufgeklärten Bevölkerungen Angst vor Überfremdung haben. Dahinter steckt vielleicht die alte Angst vor dem Hunger und dem Krieg.
Die Frage ist doch, was mit Sünde gemeint sein kann, wenn man den engen kirchlich-theologischen Kontext einmal unbeachtet lässt. Ist es tatsächlich die Einhaltung von historischen Regelwerken? Immer schon gab es biologistische Ansätze, die freilich auch die Natur auf enge Formeln herunter gezoomt haben. Wer Evolution mit Konkurrenz und Mord und Totschlag gleichsetzt, kann Solidarität, Empathie und Kindchenschema nicht erkennen. Letztlich liegt in solchem Ansatz wieder nur die alte Schuldzuweisung: in mir ist das Gute, aber das Böse ist draußen. der Wolf ist böse und das Rotkäppchen ist schutzbedürftig. Gerade am alten Feind des Menschen, am Wolf, kann man zeigen, dass ‚Feind‘ ein inneres, kein äußeres Problem ist. Feind ist nur ein anderes Wort für Angst. und weil wir alle Angst haben, ist der Wolf der beste Gefährte des Menschen geworden, seine Eürde allerdings wird nicht durch seinen Nutzen gefährdet, sondern durch sein überaufmerksames und dankbares – hündisches – Wesen. Viele Menschenkinder sind schon von Wölfen aufgezogen worden, darunter auch legendäre.
Und weil wir alle Angst vor uns selbst haben, wollen wir richten, wenn jemand im Moment schlechter gehandelt hat als wir oder wenn er, anders als wir, dabei ertappt wurde, die Regeln nicht eingehalten zu haben. Aber wir alle halten die Regeln nicht ein, deshalb überholen sich Regeln auch regelmäßig. Sie sind historisch.
Wer die zurzeit geltenden Regeln nicht einhält, bestraft sich selbst. Die erste Strafe ist, dass er nicht erfolgreich handeln kann. Die Ehebrecherin (steinigen!) widerspricht der von ihr selbst oder ihrer Familie getroffenen Auswahl genetischer Folgerichtigkeit. Allerdings kann der Ehebruch auch eine Korrektur dieser Folge sein. Dann würde durch die Ermordung der Untäterin die Zukunft der Familie und der Gruppe gefährdet. Der Dieb, als zweites Beispiel, schädigt befreundete oder sogar verwandte Familien oder Gruppen und damit, gemäß dem Allmende-Dilemma, sich selbst. Aber zweitens leben die Untäter mit einem schlechten Gewissen, ohne Erfolgsfreude, zunehmend geächtet. Die Untat selbst ist die Strafe. Es bedarf keiner weiteren Strafe, Schon deshalb nicht, weil sie kein Mensch verhängen kann und darf.
Die Angst, dass in der Welt, die nach diesem Satz gestaltet würde, die Mörder frei herumlaufen könnten und Wiederholungstäter ohne Ende sein könnten, ist ganz überflüssig. Natürlich können wir in einer durch Strafen und Amtsanmaßung (jedes Amt ist eine Anmaßung) geschädigten Welt nicht mit einer Amnestie für Mörder und Kinderschänder anfangen. Wir können gar nicht mit Amnesie anfangen, sondern im Gegenteil, wir müssen uns erinnern, woran wir schuld sind. Wir müssen lernen, dass es das Böse wahrscheinlich nicht als Substanz, als Erbmasse, genetischen Fluch oder dergleichen gibt. Wer das glaubt, ist mit dem Fingerzeigen und Steine werfen gut beraten. Das böse ist die Unterlassung des guten, die Summe der Fehlentscheidungen. wir müssen also versuchen Prävention mit Wiedergutmachung zu koppeln. Wir dürfen nicht von unserem Nachbarn verlangen, dass er das Richtige tut. Wir müssen zunehmend von uns verlangen, dass wir weniger unterlassen: nachdenken und vielleicht noch mehr empathisch handeln. Als Wort, als Begriff der Psychologie mag Empathie relativ neu sein, als Gefühl ist es so alt wie die Menschheit. Wir sollten ab sofort nur noch an uns selbst appellieren. Durch Rache erhöht sich die Summe des Bösen, der falschen Entscheidungen, des Leids. Weil es aber Untaten gibt, kann es keine Gerechtigkeit geben. Wir müssen also Gerechtigkeit als das erkennen, was sie wahrscheinlich ist, ein Ideal, das durch unser Handeln stückweise, allerdings auch nur asymptotisch verwirklicht werden kann. Dazu können uns Religion, Philosophie und Kunst ermutigen. Den Mut müssen wir dann aber selbst entwickeln und anwenden. Noch im kommenden Jahrzwanzigst werden wir, möglicherweise durch kritische Situationen im Iran, in Israel und in Nordkorea, die Atomwaffen abschaffen. Das wird ein gewaltiger Meilenstein zur Abschaffung der Gewalt sein. In Verwirklichung des schönen und großen Satzes wurde in den weitaus meisten Ländern der Welt die Todesstrafe abgeschafft, in der Folge sank die Anzahl der Morde. Wenn die Waffen abgeschafft werden, wird es weiniger Kriege geben. Vielleicht nennen wir diese schöne Initiative nach dem Yesus-Satz ‚Das Jesse Washington Projekt‘.
*Yohannis 8,7