Merkwürdigerweise kollidieren Gruppenzugehörigkeit und Sendungsbewusstsein nicht miteinander. Jeder, der eine Gruppe gefunden hat, wird ihr Sprecher und fühlt sich berufen, die Unwissenden aufzuklären. Es stört die Gruppenmitglieder nicht, dass es schon unzählige Sprecher gibt. Jede Gruppe muss dennoch notwendigerweise von der Realität abweichen, kein Spiegel, über die Wirklichkeit gelegt, ist mit dieser deckungsgleich. Man kann noch so viele Kleists und Hegels zitieren, Gruppenmitglieder lassen sich nicht von der Richtigkeit und Einzigartigkeit ihrer Mission abbringen. Alle anderen Menschen werden in der anderen, falschen Gruppe der Unwissenden verunglimpft, es sei denn, sie lassen sich überzeugen.

Aber das erklärt noch nicht, warum lieber Katastrophen vorausgesagt werden als Idyllen oder Paradiese. Den steinigen Weg allein gegangen zu sein, erscheint uns heroischer als an Mutters Hand die asphaltierte Lüge zu erleiden. Wer will nicht gerne Held sein? Je mehr Menschen es gibt, desto mehr teilen die von Andy Warhol vorausgesagte Sucht nach dem Fünfzehn-Minuten-Ruhm. Nicht jeder kann selber Hitler sein, so erschien und erscheint es vielen wünschenswert, wenigstens eine zeitlang das gleiche gesagt zu haben. Hitlers, übrigens durchweg epigonale Prognosen waren nicht nur alle falsch, sondern auch zerstörerisch. Immer wieder werden Bomben entschärft, die einst gegen Hitler und seine vorausgesagten Katastrophen deponiert wurden. 'Die Toleranz baut die Tempel wieder auf, die der Fanatismus zerstörte' steht in der Hauptstadt der Toleranz in eine Tordurchfahrt gesprüht. Die Konsequenz der Miesmacherei dagegen ist das Miese.

Ganz nah verwandt mit dem Heldentum ist die Wichtigtuerei. Deshalb wird das wirklich wichtige lächerlich gemacht. Menschen, die das Gute und die Liebe voraussagen, werden als Naive und Träumer hingestellt. Kein Realist kann mehr sehen als die Realität auf seinem Teller oder in seinem Kleingarten. Noch jeder Entdecker muss ein Ikarus sein und das Scheitern einkalkulieren. Realisten, die tatsächlich glauben, dass man ohne zu scheitern gewinnen kann, können nur kopieren und konsumieren. Das aber ist der Inhalt der Langeweile, nicht der Innovation. Zwar spricht für die Diktatur, die die Regierungsform der Realisten ist, die Schnelligkeit der Entscheidungen. Aber gegen die Diktatur brüllt der Mangel an Richtigkeit, wie man an den Kreuzen in Verdun und den Ruinen in Berlin sehen kann. Wäre Rosa Parks Realistin gewesen, würde sie heute noch im Bus auf den Plätzen für die Abgesonderten sitzen und Obama wäre nicht Präsident und Michael Curry nicht Prediger auf der königlichen Hochzeit gewesen. Die Einteilung der Menschen in qualitativ unterschiedliche Gruppen ist wirklich die Voraussetzung für Katastrophen und Untergang.

Wer bestimmt weiß, dass die Welt bald untergehen wird, kann mit seinem Wissen drohen. Wir dagegen wissen, dass wirkliches Wissen zum Drohen nicht geeignet ist. Wen bedroht die Evolutionstheorie? Ein Denksystem, das auf Strafe und Belohnung beruht, vielleicht sogar weil es glaubt, dass die Welt hierarchisch funktioniert, kann nicht anders als auch zu glauben, dass die Drohung mit der Strafe die Menschen letztlich zu allem bringt. Zeitweilige Erfolge, wie der zweite Weltkrieg, geben ihnen recht. Aber jedes Kind weiß, dass und wie man den Drohungen entkommt: durch Mut. Wer hundertmal feige war, und wer war das nicht, wird beim mutigen hundertersten Mal belohnt. Trotzdem sind Drohungen leider wirkungsvoll. Drohungen sind kein Nullsummenspiel. Ihre Opfer säumen die Irrwege wie die Verkehrstoten die Landstraßen.

Apokalypse ist zudem die Projektion der eigenen Auflösung. Wir können uns nicht wirklich wundern, dass es Apokalypsen seit dem Beginn des Denkens gibt. Denn der Mensch erfährt sich als ein äußerst fragiles Wesen. Er ist von Tod und Auflösung umgeben. Der Humus ist gleichzeitig Ende und Quelle des Lebens, so wie die Liebe gleichzeitig Sehnsucht nach Bindung und Ausschluss der Bindung ist. So gesehen ist die Voraussage des Untergangs des eigenen System oder sogar der Welt immer richtig. Jede Apokalypse hat recht. Der Streit geht um die Zeit.

Natürlich gibt es wirkliche Angst und wirklich Angst. Als wir Kinder waren, wimmelte die Welt von giftigen Insekten und Spinnen, die dann im Lichte der Aufklärung als selbst gefährdete Wesen erschienen, nicht als Gefährdung. Natürlich kann Einwanderung wirklich Angst machen: das war bei den Juden so, bei den Franzosen, bei den Polen, bei den Italienern, den Türken, den heutigen Flüchtlingen. Aber nach einer gewissen verständlichen Angst muss sich doch auch wieder der Verstand melden und der Blick auf die Geschichte: erstens haben wir jede Einwanderung überlebt und zweitens wer ist wir? Niemand und nichts ist auch nur mit sich selbst identisch, gerade auch, weil alles vergeht und Angst und Mut uns verändern.

Ein von mir sehr geschätzter Kolumnist, Harald Martenstein, ist soeben unter Anführung aller möglichen Gründe auf die Seite der Angst übergetreten, obwohl er, wie er sagt, ein liberaler Mensch ist. Er möchte nicht, dass sein kleiner Sohn einst unter einer intoleranten, gegen die Freiheit gerichteten Herrschaft der Islamisten leben soll. Das will sicher niemand, aber wir können es nicht ausschließen. Aber Martenstein wohnt, wie ich, in der Uckermark. Bei allen Nachteilen, die wir hier hinnehmen müssen, haben wir doch einen großen Vorteil: sollten die Islamisten in Europa die Macht übernehmen, so haben wir hier in der Uckermark noch fünfzig Jahre Freiheit. Die Freiheit vom Lärm und Aktionismus haben wir jetzt schon. Und: sollte Martensteins kleiner Sohn, der so wunderbar frei in der Uckermark aufwächst, tatsächlich eines Tages von Islamisten beherrscht werden, so müsste er mindestens fünfhundert Jahre alt werden. So lange brauchen große Reiche, um unterzugehen. Im Gegensatz zu Hitler und Höcke können wir keine tausend Jahre voraussagen. Mensch, Martenstein, sprechen sie in deinem Dorf französisch?

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