Wir Menschen schwanken in unseren Erwartungen gern zwischen der Apokalypse und dem tausendjährigen Reich. Unsere historischen Emotionen und Dimensionen pendeln vom Minimum auf das Maximum und zurück. Als tausend noch eine große Zahl war, fielen die beiden Begriffe auch gern zusammen. Ein Hauptgrund für diese der täglichen Langeweile widersprechenden Vorstellung ist unser dichotomisches oder bipolares Weltbild. Wir sind immer die Guten, die anderen dürfen das Böse verkörpern. Unser Reich ist das Ende der Geschichte, alles andere muss und wird untergehen. Diese Sicht erzeugt Selbstgerechtigkeit und die schadet einer Idee immer mehr als der äußere Feind, den einzuladen wir so gerne verpassen. Statt sie einzuladen, werden die anderen, die auf der anderen Seite gerne als die Antipoden angesehen, die also nicht nur anders sind, sondern auch noch auf dem Kopf stehen. Diese ganze Feindrhetorik beruht auf dem Unterschied von Evidenz und Tatsache. Erst seit kurzem ist uns bewusst, dass wir Tatsachen nicht so leicht aufnehmen können, wenn überhaupt. Die Relativität von oben und unten hat es den damals herrschenden, ob nun bewusst oder unbewusst, leichtgemacht zu erklären, dass in Australien niemand leben kann, es sei denn, er sei vom bösen Geist besessen, es sei denn, die Erde ist eine Scheibe, es sei denn, die Berichterstatter lügen allesamt. Das war die Erfindung der Lügenpresse. Wir können nicht glauben, dass das, was wir sehen, nicht das ist, was ist, sondern nur das, was wir glauben. Unsere Gewissheit über oben und unten wurde zum ersten Mal erschüttert, als wir eine Milchkanne an unserem Arm herumschleuderten und die Milch nicht auslief. Aber es gibt keine Milchkannen mehr. Eine Karikatur über die europafressende Rothschildbank hat es immerhin schon bis in ein Sozialkundebuch (Autor der Karikatur: David Dees, Anstöße 2, 2012) des Klettverlages geschafft.

Seit vielen Jahren bedauern wird die Abschwächung des Rechtslinksschemas. Merkel wird die Zerstörung des Konservatismus, Schröder die Aufweichung der Sozialdemokratie vorgeworfen. Tatsächlich leben wir in einem reichen Sozialstaat mit Schützen- und Vertriebenenvereinen, mit rechten und linken Parteien, mit einer sehr großen Bandbreite von Meinungen und politischen Absichten. Die Wähler wählen seit vielen Jahren die Partei oder die Parteien, die Beständigkeit versprechen. Aber Beständigkeit ist nicht identisch mit Konservatismus oder Sozialdemokratismus. Wählen ist nicht nur eine rationale, sondern auch eine emotionale, traditionelle, zeitgeistbelastete, flüchtige Entscheidung. Kaum einer prüft die Parteiprogramme oder die Kandidaten. Jeder, der auf Tatsachen schwören würde, wenn man ihn fragte, folgt hier dem nebulösen Gefühl von Sicherheit und Unsicherheit, von Bündnis und Nationalstaat, von Europa und dem Dorf, in dem seine Großmutter lebt.

1968, und die Jahreszahl ist auch eher Symbol als Tatsache, vollzog sich ein Wandel von der formal schon seit 1917 installierten Demokratie – oder jedenfalls dem Ende von fünf monarchischen Großreichen - zur wirklich gelebten Demokratie mit freien Wahlen, freier Presse, mit Emanzipation der Frauen und der Schwarzen, mit der Revolution und dem bittersten Konservatismus. Am 2. Juni 1967 wurde der schöngeistige Student Benno Ohnesorg in Westberlin von einem blindwütigen Polizisten erschossen, der sowohl Nazi, wie die Hälfte seiner Kollegen, als auch Stasi-Agent war und trotzdem das Denkschema von vor 1917 zu verteidigen glaubte. Ihn trifft der Vorwurf: Wenn wir die Schläger schlagen, sind wir die Schläger. Aber Benno Ohnesorg war kein Schläger, Randalierer, Revolutionär oder dergleichen. Eher war er die Ahnung von dem neuen empathischen, interessierten, hilfreichen Menschen.

Die Frage, die sich jetzt aufdrängt, nachdem genau wieder fünfzig Jahre vergangen sind, ist, ob die Welt sich wieder umkehrt, die Populisten, die Rechten, die Rechtskonservativen das Denken bestimmen werden.

Diese Frage kann niemand beantworten. Wieder kann man nur glauben, obwohl man glaubt Tatsachen zu sehen. Aber wir wollen noch einmal auf 1917 u nd 1967 zurückblicken. Vielleicht haben 1917 mehr Menschen den Krieg für sinnlos gehalten als 1914, wo doch eine satte Mehrheit den Krieg als Lebensgefühl und legitime Methode verstanden hatte. Aber niemand hat auch nur im entferntesten geahnt, dass vier Kaiser einfach von der Bildfläche verschwinden würden. 1967 hat selbst der sozialdemokratische Pfarrer als Bürgermeister von Westberlin die Weltordnung durch feinsinnige Kunststudenten gefährdet gesehen.

Niemand kann die Zukunft voraussehen. Aber das überlange Festhalten an veralteten Vorstellungen hat immer eher zum Gegenteil dessen geführt, was es wollte oder vorgab zu wollen. Dass es oft einfach um Macht und Geld geht, hat auch nicht zur Glaubwürdigkeit von Politik beigetragen. So wie wir nicht wissen können, ob etwas Tatsache, Meinung oder Ideologie sei, so können wir auch nicht wissen, ob jemand an das selbst glaubt, was er sagt. Wenn wir andererseits immer von Manipulation, Betrug und Verführung ausgehen, muss es ein Skript geben, das jemand kennt und ausnutzt. Aber das Leben hat kein Skript, noch nicht einmal feste Regeln. Ineinandergeschachtelt unterliegen wir biotischem Verhalten, das wir aber aushebeln können (‚Antibabypille‘), sozialem Verhalten, das wir aber manipulieren (Halluzinogene, Populismus) und einem informationellen System, das zwischen Omnipotenz und Infarkt schwankt, wie wir selbst. Vielleicht sind wir in den letzten hundert Jahren aber auch geschickter zum Vorausahnen geworden. Kriege scheiden als Konfliktlösung aus. Mauern dienen keinesfalls dem Handel, der die Voraussetzung zum Wohlstand ist. Teilen ist das Grundprinzip des Sozialstaats und sollte in der Welt nicht gelten? Empathie hat sich nicht nur theoretisch (Jesus, Gandhi), sondern auch praktisch als Basisverhalten bewährt, ebenso wie Emanzipation. Wir glauben heute nicht mehr an die Schädlichkeit oder Besessenheit der Antipoden. Wir sollten gewitzt genug sein, überhaupt gegen anti zu sein. Besonders Ideologien, die sich auf anti stützen oder stützten, haben sich nicht bewährt. Da alle Ideologien für die Macht missbraucht wurden, sollten wir sie überhaupt überdenken oder auf ein Minimum beschränken.

Rechts hebelte die Mitte aus und gebar Links. Links vergaß sich in Selbstgefälligkeit und gebar erneutes Rechts. Was kommt, wird weder links noch rechts sein. Bis dahin können wir schon einmal an alle Wände sprühen: Mr. Trump tear down this wall.

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