Wir sehnen uns schon vom Mutterschoß an nach Dogmen.

We are dogma-prone from our mother's wombs.

Simon Foucher, Dissertation sur la recherche de la vérité, 1673

In drei Bereichen unseres Lebens versuchte mein voriger blog zu zeigen, dass es besser ist, immer wieder neu zu lernen statt sich nach vorgegebenen und damit immer überlebten Regeln zu richten: unser Verhältnis zu Geschlechterrollen, unser Verhältnis zur Natur und zum autoritären oder vernetzten Staat. Das brachte mir sehr viele, teils wütende Kommentare auf der österreichischen Plattform fisch + fleisch ein. Gleichzeitig gab es in der vorigen Woche dort einen Aufruf, die oft krasse Polemik zwischen links und rechts zu mäßigen. Ich antworte also auf einen der Kommentare und leiste damit gerne meinen Beitrag zur Entpolemisierung

Wir sehnen uns nach Dogmen, obwohl wir wissen, dass sie ahistorisch sind. Der Unterschied zur Freiheit, nach der wir uns ebenso vergeblich sehnen, ist, dass Dogmen uns vom Denken befreien sollen, Freiheit uns aber nur durch Denken erreichbar ist.

Die sprichwörtliche Flut der Informationen, die Inflation der Texte führt dazu, dass Texte oft nur noch gescannt werden, überflogen statt gelesen, referiert statt nachgedacht. Mancher liest nur noch die Referate der Referate der Referate. Statt offen zu sein für neue Argumente, die man durchdenken, annehmen oder ablehnen kann, wird ein Text nur noch daraufhin betrachtet, ob sich altbekannte 'gegnerische' Zitate finden, wahrscheinlich auch umgekehrt, ob sich altbekannte 'eigene' Zitate in genügender Menge finden, um den Text als einen eigenen anerkennen zu können. Aber Texte, Argumente und Länder gehören uns nicht. Die Stadt Mumbai gehört weder den vierzig Leoparden, die in ihr leben, noch den zwanzig Millionen Menschen. Der Begriff der Alphatiere war aus der Beobachtung von domestizierten Wölfen gefunden worden. Wahrscheinlich hat die Populärwissenschaft ('Tierdokus';) ihn deshalb bis heute verwendet, weil er dem Wunschdenken vieler Menschen entspricht, die Natur möge genauso funktionieren wie wir. Die Stadt Königsberg/Kaliningrad, ein weiteres Beispiel, gehört weder den Pruzzen noch den Russen noch den Deutschen. Die meisten Menschen wissen schon lange nicht mehr, nach welchem König die Stadt einst benannt wurde, wer die Pruzzen sind und wer Kalinin war.

Der Aberglaube, dass man auf die Welt kommt, die man dann besitzt, ist mit dem Landbesitz und dem Geld verbunden. Das sind beides späte Konstrukte, und sie sind keineswegs nur erfolgreich. Der Finanzkapitalismus wird zum Beispiel von linken wie rechten Gruppen scharf attackiert, ohne dass sie beachten, dass der Kapitalismus nur eine Methode ist, die Wirtschaft zu bündeln. Da alles historisch ist, gibt es, anders als in der materiellen Welt, immer auch eine Gleichzeitigkeit. Also können wir auf die eindeutigen Nachteile des Kapitalismus nur verzichten, wenn wir auch seine nicht weniger eindeutigen Vorteile aus unserem Leben bannen. Statt mit Schaum vor dem Mund Forderungen an andere zu stellen, sollten wir lieber aufhören, pro Jahr 37 kg Plastikmüll zu produzieren und 50 kg Schweinefleisch zu verbrauchen. Der Fleischverzehr geht tatsächlich schon zurück, es gibt in Deutschland knapp 10 Millionen Vegetarier. Statt sich nun zu freuen, dass es eine weitere Gruppe von Menschen gibt, die aus einem anderen Grund als die Massentierhaltung auf Schweinefleisch verzichten, wird diese Richtung insgesamt als ein Nachgeben gegenüber der vermeintlichen Islamisierung gesehen. Lächerlicher kann man nicht argumentieren.

Krieg wird von vielen als naturgegeben angesehen. Damit wird die Natur als ahistorisch qualifiziert. Evolution ist aber nicht die Beschreibung einer Aufwärtsentwicklung, sondern einer oft schmerzlichen Entwicklung, bei der genauso viele Pflanzen- und Tierarten aussterben wie entstehen. Leben ist ein Prozess und kein Baugerüst. Aber selbst für das Baugerüst bedarf es keines Sturms, um es über kurz oder lang umzustürzen und in seine Elemente zurückzuverwandeln. Weltherrschaft ist ein historisches Konstrukt aus der Zeit der Nationen, die ebenfalls ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts sind. Die zeitweilige Auflösung dieses Strebens nach Weltherrschaft haben ausgerechnet zwei Besitzer damals weltgrößter Konzerne praktiziert: der Antisemit Ford und der Jude Rathenau. Rathenau wollte kein Jude sein, aber das kann man sich nicht aussuchen, Ford wollte keine Juden haben, aber das kann man sich nicht aussuchen. Heute kann man sich nicht aussuchen, ob der Wohnungsnachbar Muslim oder Afrikaner ist, und es spricht auch nichts dagegen. Rathenau hat Deutschland nach dem verheerenden, auch von seinen Kriegszielen her falschen ersten Weltkrieg in die Reihe der gleichberechtigten Nationen zurückgeführt. Sein Modell des Exports führte einerseits zu Wohlstand, andererseits zur Globalisierung. Wer also Globalisierung ablehnt, sollte nicht ihre Abschaffung fordern, die unmöglich ist, sondern nach Niger auswandern. Niger ist außerdem ein gutes Beispiel für die Historizität und Sinnlosigkeit von Grenzen.

Noch nie wurde also in einem Text von mir die Forderung nach Weltherrschaft gestellt. Weder glaube ich, dass sie Deutschland oder den USA oder irgendeinem anderen Land zustünde, noch befürchte ich, dass die Inder oder die Chinesen oder die Afrikaner sie an sich reißen würden. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man aus dem Satz 'sehen wir in den Afrikanern lieber die Brüder und Schwestern, von denen wir seit Jahrhunderten reden' einen Anspruch auf Weltherrschaft von irgendjemandem herauslesen kann. Ich schreibe nicht von Weltherrschaft, sondern von Würde. Mit Wut zernichten wir unsere eigene Würde, mit Weltherrschaft die der anderen. Es ist möglich und wünschenswert, dass die Geschwindigkeit der Innovationen so hoch bleibt, wie sie derzeit ist. Das könnte bedeuten, dass in den nächsten dreißig Jahren weltweit Arbeitsplätze entstehen, von denen wir jetzt noch genauso wenig erahnen, wie vor dreißig Jahren das Smartphone. Zum Beispiel könnte der Abbau seltener Erden, die für die rasant wachsende Elektronik unverzichtbar sind, vermenschlicht werden. Das historische Beispiel dafür ist der Steinkohlenbergbau im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Seine Vermenschlichung brauchte mehr als 150 Jahre. Setzt man jetzt die Geschwindigkeitserhöhung für Innovationen der letzten Jahrzehnte an, so ist das Ziel der Menschenwürde keineswegs utopisch. Betrachtet man gleichzeitig die Veränderung unseres Fokus, die Anerkennung unserer Verantwortung, so sieht man, wie rasant auch der Hunger, die Pest und der Krieg zurückgedrängt wurden. Nicht das Denken und der Optimismus sind unrealistisch, sondern das ahistorische Festhalten an Regeln und Voraussagen. Wir irren immer, wenn wir eine alte und historische Kategorie in die Zukunft zu übertragen versuchen: Karl Marx wollte mit einer Klasse gewinnen, die es gar nicht mehr gibt, Adolf Hitler wollte gar mit einer Rasse gewinnen, die es nicht geben kann. Soviel zu links und rechts. Immer wenn wir glauben, die Ordnung gefunden zu haben, wird sie vom Freiheitstraum zerbrochen.

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
4 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Matt Elger

Matt Elger bewertete diesen Eintrag 21.01.2018 07:45:44

Iris123

Iris123 bewertete diesen Eintrag 20.01.2018 18:39:21

73 Kommentare

Mehr von rochusthal