Hatikva

1970 war in der UdSSR ein Beschluss gefasst worden, Juden ausreisen zu lassen und so kamen täglich um die zweihundert Leute am Südbahnhof an, Juden die ihr letztes Geld zusammengekratzt hatten, um sich von den antisemitischen Unterdrückungen in der Sowjetunion freizukaufen. Sie kamen mit dem Zug „Chopin“ über die Grenze bei Breclav, fuhren weiter nach Wien und flogen kurz darauf nach Israel.

In Hohenau, wo die österreichische Grenzbehörde kontrolliert, stieg ein Gendarm auf die Lok. Er trug ein Sturmgewehr und sollte bei möglichen Angriffen den Schutz des Zuges garantieren, doch seine Anwesenheit machte die Gefahr erst begreifbar. Über all die Jahre gab es keine Übergriffe.

Für die Leute im Zug hatte sich im Morgendämmern die Freiheit eingestellt, jene Freiheit die ihren Preis hatte, den die Leute aus dem Zug nicht bezahlen konnten, die Gemeinschaft zahlte für sie und es war kein Thema.

Hatikva, wie es in der israelischen Hymne besungen wird, die Hoffnung hatte sich erfüllt. Eine Stunde Fahrt und dann kam der Zug mit den Leuten am Südbahnhof an. Es gab schönere Plätze in Wien, um der Freiheit zu begegnen, aber es war egal, es war eine Ankunft in einem manifest gewordenen Gedanken, im Gedanken des Freiseins, der Angstlosigkeit.

Überwiegend ältere Leute stiegen aus den Waggons, ärmlich gekleidet mit einem Pappkoffer in der Hand, Koffern mit Schnur zugebunden, ihre ganze Habe am Leib und einen Koffer tragend, so setzten sie sich in Bewegung, wurden aufgehalten, umarmt, zu den Tischen geführt und sie in einer Art begrüßt, die tief bewegend war.

Nirgendwo Antiplakate, nirgendwo Neid auf das ärmliche Schicksal diese Emigranten, keine Abwehrhandlungen, Niedermachungen, einfach angekommen und angenommen. Woher kommt der Hass der Gegenwart, der Neid, den es nicht geben dürfte, folgt man den europäischen Werten bis zur Bibel, dort ist doch der Neid als Todsünde gelistet? Gut, das wird keinen Ausländerhasser abhalten, seine dümmlichen Parolen zu rufen, nur es sollte uns nachdenklich machen, was hier gerade abgeht und was vor allem in uns abgeht.

Die Angekommenen setzten ihr Schritte vorsichtig, es schien, als müssten sie langsam die Freiheit betreten, vorsichtig mit dem neuen Gut des anderen Lebens umgehen und sich verbeugen vor ihrem Schicksal, das ihnen diese Auswanderung geschenkt hatte. Sie standen in ihren Mänteln und Hüten, tranken aus einem Becher, bissen in eine Semmel und versuchten, ihr Glück zu fassen. Nach einer Stunde war der Bahnsteig leer, zwei große Müllsäcke zeugten von der heutigen Ankunft, morgen werden es wieder zwei Säcke sein, wieder zweihundert arme ehemalige Sowjetbürger ankommen, irgendwo Stunden verbringen, um dann nach Israel zu fliegen. Einige werden bleiben, werden hier leben und in der Bevölkerung aufgehen, werden voll angenommen werden und einen Lebensabend in Frieden leben, es ist ihnen zu wünschen.

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