Brich auf, gehe los, lass das Alte hinter dir und schau nach vorn! Das Ziel, es ist noch weit entfernt. Du siehst es nicht, aber du spürst seine Kraft. Verheißungsvoll zieht es dich an und gibt dir die Kraft weiterzugehen.“ (Ingeborg B. Hofbauer Jakobsweg 2007)

Pilgern! Mein Herz wird sofort berührt wenn ich dieses Wort höre und eine tiefe Sehnsucht ergreift mich.

Als ich 2007 zu meiner ersten Pilgerwanderung, von S. Jean Pied de Port am Fuße der Pyrenäen aufbrach, mit dem Ziel, 4 Wochen später in Santiago de Compostella zu sein, suchte ich weder Gott, noch hatte ich eine schwere Krankheit, noch war ich unglücklich. Mich trieb eine Sehnsucht, die ich nicht benennen konnte und äußere Umstände (eine Mongoleireise, die ich ursprünglich gebucht hatte, wurde abgesagt) führten dazu, dass ich mich auf den Jakobsweg machte.

Gott brauchte ich nicht zu suchen, denn in mir war bereits von Kindheit an ein tiefes Vertrauen in eine göttliche Dimension eingepflanzt. Dieses Vertrauen half mir bereits am ersten Tag, wo ich allein bei Nebel und Regen über die Pyrenäen wanderte. Wie von unsichtbarer Hand geführt, erreichte ich wohlbehalten mein Ziel Roncevalles.

So glücklich und frei wie in diesen Wochen, war ich niemals zuvor in meinem Leben, jedoch viele Male danach. Das Pilgern wurde zu einem festen Bestandteil meines Lebens.

Ich entdeckte Gott nicht, was sich so viele, die sich zu einer Pilgerreise aufmachen, wünschen. Ich entdeckte Gott neu. Diese Erfahrung veränderte mein Leben, bzw. durch diese Erfahrung hatte ich den Mut, mein Leben zu verändern.

Der Pilger, die Pilgerin (lat.:peregrinatus=Fremder), ist als Fremde/r in der Fremde unterwegs. Eine tiefe Verbundenheit spüre ich, wenn ich an die vielen Flüchtenden denke, die sich voller Hoffnung auf den Weg in die Fremde machen, um Schutz zu finden. Mir begegneten auf meinen vielen Pilgerwegen durchaus positiv gesinnte Menschen, die mich herzlich willkommen hießen. Was ist der Unterschied zwischen mir und den vielen anderen Menschen, die derzeit nach Europa unterwegs sind? Ist es der Umstand, dass ich meine Unterkunft bezahlen kann und am nächsten Tag wieder weiterziehe?

Das Pilgern ist meine persönliche Therapie, die ich regelmäßig in Anspruch nehme. Das Gehen in der Natur, vor allem auch im Wald (Tipp: Der Biophilia Effekt von Clemens G. Arvay) hat eine (messbar) heilende Wirkung auf mich. Sobald ich merke, dass ich die Welt um mich herum nicht mehr aushalte, mache ich mich auf den Weg. Es ist auch das Ziel, das mir immer wieder Kraft dazu gibt aufzubrechen. Beim Pilgern und auch im Leben.

Auf der Via Porta in Thüringen begegnete ich einem Paar aus Österreich. Ich, wie immer, allein unterwegs, erzählte begeistert und mit offenem Herzen von meinen Pilgerwegen. Die Frau machte folgende Bemerkung: “Jeder sammelt etwas, du also Pilgerwege“. Ich konnte darauf nichts erwidern, denn ich musste diesen Satz erst wirken lassen und darüber nachdenken.

„Nein“ ich sammle keine Pilgerwege weiß ich heute. Das ist im Sinne von haben wollen und ansammeln und das mündet meist in drückenden Ballast oder in Verpflichtungen. Ich suche nicht die Wege die ich gehe, die Wege finden mich. So auch die Via Porta, von deren Existenz ich, bis ein paar Monate vor meinen Aufbruch, nichts wusste.

Zu jener Zeit lag ich aufgrund eines schlimmen Zusammenbruches mit einer Lungenentzündung im Bett. Außer Radio hören konnte ich nichts tun. Somit konnte mich der Ruf der Via Porta erreichen.

Krankheiten haben wertvolle Botschaften für uns bereit.

Auch mein Weg durch Slowenien nach Triest ans Meer hat mich gefunden. Dazu hat mich meine Urgroßmutter Ernestine, die ich leider nie kennenlernen durfte, inspiriert. Als ledige Tochter einer slowenischen Dienstmagd im damaligen kaiserlichen Triest, wurde sie (1864) in einem Triestiner Krankenhaus geboren und in einem Kloster als Findelkind abgegeben. Sie wuchs in Skofja Loka auf und machte sich mit 20 Jahren (1884) mutig und allein auf den Weg in die Obersteiermark, um beim Bahnbau Arbeit zu finden. Eine schöne Geschichte. Doch welches Leid, welche Verletzungen und welche Demütigungen hinter diesem Mut gestanden hatten, bleibt der Phantasie überlassen. Ich konnte es leider nie in Erfahrung bringen. Unsere VorfahrInnen haben über diese Dinge geschwiegen oder wurden nicht danach gefragt.Ernestine fand nicht nur Arbeit, sondern auch meinen Urgroßvater und somit war mein Familienstammbaum begründet. Diesen Weg meiner Urgroßmutter, zu der ich eine tiefe seelische Verbindung spüre, wollte ich zurückgehen und fand tatsächlich eine Wegbeschreibung durch Slowenien nach Triest, vom Tiroler Autor Gerhard Pilgram.

Das Pilgern ist die beste Art die eigene Biografie aufzuarbeiten.

Beim Gehen steigen jene Themen aus dem Inneren hoch, die geheilt und wahrgenommen werden wollen. Es gibt Tage beim Pilgern, da heule ich stundenlang vor mich hin und fühle mich danach leicht und frei...und...geheilt.

Das Pilgern ist die beste Form der Reflexion.

Alle großen Veränderungen in meinem Leben, angenehme und unangenehme habe ich auf diese Art und Weise bearbeitet. Mit 54 Jahren merkte ich, wie mein Körper sich veränderte und ich mich plötzlich in den Wechseljahren wiederfand. Ich machte mich wieder auf, mit dem Ziel, meinen inneren Frauen zu begegnen. Dem kleinen Mädchen, der jungen Frau, der reifen Frau und Mutter. Ich begegnete bei dieser Pilgerwanderung der weisen Frau in mir und verliebte mich in sie.

Seitdem kann mich (frauenfeindliche) Werbung, die uns mit ihren Produkten ewige Jugend und Schönheit verspricht, nicht mehr verunsichern. Ich empfinde sie verlogen und lächerlich. Denn ich bin mir meiner weiblichen Kraft bewusst geworden. Niemals zuvor in meinem bisherigen Leben habe ich mich so stark und unverletzlich gefühlt wie jetzt. Ich hege den Verdacht, dass diese o.e. Werbung darauf abzielt uns dieser Kraft zu berauben, indem man uns Frauen von diversen Produkten und Modellen abhängig macht, weil Abhängigkeit schwächt und das könnte durchaus in manchen Kreisen willkommen sein. Deshalb sollte man als Frau achtsam sein und kritisch die Dinge und Botschaften anschauen und hinterfragen, die man(n) uns „verkaufen“ will.

Ich färbe meine Haare seit meinem 54. Lebensjahr nicht mehr. Einige wenige Geschlechtsgenossinnen begegneten mir mit Kritik und Ablehung. Viel häufiger bekomme ich jedoch die Rückmeldung von Frauen,wie sehr ich zu ihrem Vorbild geworden sei.

Beim Pilgern bekommt man Zeit und Raum

Ein guter Freund sagte kuerzlch zu mir:

„Jeder findet seine Fluchtmöglichkeiten. Du beim Pilgern ich beim Malen.“ Ich musste nicht lange nachdenken, bis ich ihm antworten konnte:“Einspruch, das ist keine Flucht mein Lieber, das ist mein Leben. Ich bin Pilgerin auf meinem Lebensweg und auf meinen vielen Wegen, die ich gehe“.

Das was uns von Herzen erfüllt ist niemals Flucht, sondern es ist das, was wir sind.Es ist das Bild, das Gott von uns hat und das ihm/ihr gefällt.

Ingeborg B. Hofbauer www.mutkompetenz.at und www.rucksackgeschichten.at

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