Es gibt im Leben Momente, in denen uns das Dasein plötzlich durchsichtig erscheint und wir das Gefühl haben, da ist mehr dahinter. Wir sehen es nicht genau, aber wir fühlen es. So als würden wir durch ein Milchglas blicken und nur die Umrisse auf der anderen Seite wahrnehmen. Ein weiser Lehrer bezeichnete diese Momente als „durchgescheuerte Stellen“. Stellen, wo wir mit einer anderen Dimension - vielleicht dem Göttlichen - für einen kurzen Augenblick in Kontakt treten. So eine "durchgescheuerte Stelle" erlebte ich in diesem Sommer.
Dieser Sommer wird für mich als der Sommer in Erinnerung bleiben, in dem mein Vater starb. Das Schicksal wollte es, dass ich in Anfang dieses Sommers eine Gruppe von 18 Pilgerinnen und Pilger auf dem Jakobsweg durch das spanische Galizien bis nach Finisterre begleiten durfte. Dieser Pilgerweg, als Metapher für den Lebensweg, gab mir ausreichend Gelegenheit, mich mit dem Thema Leben, Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Ich hatte mich vor meinem Aufbruch von meinem Vater verabschiedet, ihn aber gebeten auf mich zu warten. Er wartete. Die letzten Tage und Nächte verbrachte ich viel an seinem Sterbelager und ich ließ die gemeinsame Zeit an mir vorüberziehen. Alles war ausgesprochen und auch alles verziehen.Geblieben ist Dankbarkeit, Liebe und Zärtlichkeit. In diesen Stunden stieg immer wieder ein wunderschönes Bild aus meinem Inneren auf. Der Sonnenuntergang am Kap Finisterre.
Stundenlang beobachteten wir dieses Naturschauspiel vom Monte Facho, hoch über dem Leuchtturm. Immer wieder hüllte der aufsteigende Nebel den Leuchtturm zur Gänze ein, so dass er völlig verschwand. Genauso plötzlich tauchte er wieder aus dem Nebel auf. Dieses Naturschauspiel drang tief und tröstlich in meine Seele und fand dort einen festen Platz. An einem wunderschönen Sommernachmittag schlief mein Vater friedlich ein. Der Leuchtturm unserer Familie war im Nebel verschwunden. Nicht mehr für uns sichtbar und trotzdem da. Ein tröstlicher Gedanke.
Ingebrg