Zivilcourage

Es war so am Anfang der Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ein kleiner Bub steht mit seinem Vater in einer Bahnhofshalle, sie warten auf den Großvater, der mit dem Zu kommt. Es ist schon abends, so spät, dass der kleine Bub sehr stolz ist, so spät noch mit seinem Vater unterwegs zu sein. Er ist in einem Alter, in dem er glaubt, sein Papa ist der Stärkste und der, der alles weiß. Wenn er in Streits mit seinen Freunden nicht mehr weiter weiß, sagt er als letztes:"Gemma wetten, ich frag meinen Vater."

Die Bahnhofshalle war fast leer, sie machte einen grindigen Eindruck, obwohl es angenehm warm war. Da und dort lungerten ein paar Gestalten herum, rauchten und hatten Bierflaschen in der Hand. Der Bub fand, dass es sich nicht gehörte so herum zu lungern. Auf einmal wird geschrien und der Bub beobachtet wie einer der offensichtlich Betrunkenen einem im Rollstuhl sitzenden jungen Mann ein paar Ohrfeigen gibt und ihn anbrüllt. Das war wirklich unerhört, der kleine Bub ist völlig sprachlos und er weiß, dass sein großer, starker Vater jetzt dort hingehen würde und es diesem Feigling, der einen Behinderten geschlagen hat, zeigen wird. Schließlich war ja sein Vater der stärkste Mann der Welt.

Der Vater aber nimmt seinen Sohn an der Hand und geht mit ihm weg Richtung Bahnsteig. Der kleine Bub versteht die Welt nicht mehr, er sagt, das geht nicht, sein Vater müsse dem armen Mann im Rollstuhl sofort helfen, doch der Vater sagt ganz ruhig, dass man ja nicht wisse worum es hier geht und, dass einem das alles nichts anginge. In den Siebzigern gab es keine roten Notfallsknöpfe und keine Mobiltelefone. Für den kleinen Buben ist das Bild, dass er von seinem Vater hatte zusammen gebrochen, er war maßlos enttäuscht und fühlte sich betrogen. Die Beiden haben über diesen Vorfall nie mehr geredet, auch das war in den Siebzigern offensichtlich so.

Heute ist der kleine Bub ein großer Mann mit einer kleinen Tochter. Heute weiß der ehemalige kleine Bub, warum sein Vater so gehandelt hat. Es ging ihm einzig und allein um die Sicherheit seines Sohnes. Er wusste oder konnte sich denken, zu was jemand fähig sein könnte, wenn er einen Behinderten im Rollstuhl schlägt, also hat er jedes Risiko vermieden und seinen Sohn weggebracht. Der Vater wusste natürlich, was er damit anrichtete, er wusste, dass ihn sein Sohn nun mit anderen Augen sehen würde, er wusste, dass jede Erklärung sinnlos wäre, er wusste aber auch, dass sein Sohn in der Zukunft ihn verstehen wird, das sein Sohn, wenn er einmal ein Vater sein wird, genau so, in erster Linie um die Sicherheit seines Kindes besorgt sein würde und dass ihm alles Andere egal sein würde.

Ich finde es infam von unserem Staat von den Menschen Zivilcourage einzufordern. Wie soll die aussehen? Die einzige Möglichkeit ist, schnell und möglichst unauffällig die Polizei zu alarmieren. Alles andere ist schon riskant, es gibt zu viele Opfer unter den Helfern. Der zivilcouragierte Mensch hat nichts in der Hand, außer seinen Mut um sich oder andere zu schützen. Diejenigen gegen die man schützen sollte verfügen immer öfter über unfassbare Bestialität. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat und bei den Mördern aber sicher nicht bei mutigen Menschen, die nicht zuschauen können.....

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Kristallfrau

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Johanna Vedral

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fischundfleisch

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Silvia Jelincic

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