Über Mut und Notwendigkeit, das Offensichtliche auszusprechen.
Oder: Vom Naturereignis zur Religionskritik
Convento do Carmo (seit 1755 in Ruinen) Quelle: Chris Adams Lizenz: GNU General Public License
Letztens in Lissabon auf einem Wandgemälde nochmal gelesen. Und seither öfters darüber nachgedacht...
"Die Toten begraben, für die Lebenden sorgen." Mit diesem Satz ist Marques de Pombal, über 25 Jahre lang Berater und Mentor von König José I. von Portugal berühmt geworden. Es war seine kühle, rationale Antwort auf die hundertmal gestellte Frage des tief verzweifelten Königs, was denn angesichts der Verheerungen des Erdbebens von Lissabon zu tun sei.
Es war der 1. November 1755, als ein See-/Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami die portugiesische Hauptstadt in Schutt und Asche legte, bis dato die grösste Naturkatastrophe in der neueren Geschichte Europas.
Die Wirkmächtigkeit dieses Geschehens ging weit über die Tatsache hinaus, dass damit ein Drittel bis die Hälfte der Bewohner Lissabons den Tod fanden: Ging es doch vor allem um die Deutung und Rezeption der Katastrophe.
Es war am 1. November gewesen, Allerheiligen, dem (fast) höchsten Feiertag des damals "allerkatholischsten" Portugal -- fest im Griff der Inquisition -- gegen 9:30 morgens, als praktisch in jeder Kirche die Messe stattfand...und, in der Nachlese am erschütterndsten: während der Königspalast und fast alle Kirchen eingestürzt waren, hatten die Freudenhäuser im "schlechten" Stadtteil Alfama das Ganze vergleichsweise schadlos überstanden. Die Konsequenz der Deutung des Geschehens kann man nicht hoch genug veranschlagen. Während die einen, stellvertretend der portugiesische König, in Verzweiflung und Lähmung verfielen -- wie anders hätte man auch reagieren können angesichts eines solchen unvorstellbaren und vor allem unbegreifbarem "göttlichen Strafgerichts", welches unvermeidbar apokalyptische Endzeitphantasien heraufbeschwor -- dachten andere weiter. Die gesamte sich gerade formierende Öffentlichkeit in Europa nahm an Geschehen und (Um-)Deutungsprozess teil: Gerade entwickelte sich das Zeitungswesen, wodurch sich die schreckliche Kunde "global" verbreitete. Eine direkte Folge der europaweit bekanntgemachten Ereignisse war die Solidarität. Der spanische(als direkter Nachbar) und der englische(als wichtiger Handelspartner) König halfen grosszügig, das britische Parlament legte nochmal 100.000 Pfund zur Soforthilfe drauf, Hamburg schickte 2 Schiffe mit Hilfsgütern: Beginn des modernen Spendenwesens.
Das Erdbeben hatte aber nicht nur Lissabon erschüttert, sondern vor allem das gesamte bis dahin im westlichen Europa vorherrschende Lebensgefühl:
Hatte man sich bis dato im Glauben gehegt, man lebe "in der besten aller möglichen Welten"(Leibniz), resultierend aus der Annahme, dass Gott als letztendlicher Weltenlenker zwar nicht mehr wie im Mittelalter inmitten des Raums, so aber doch immerhin noch "hinter dem Vorhang" stehe, kam dieses "Alles ist gut" an sein jähes Ende.
Voltaire führte in seinem Lehrgedicht "Poème sur le désastre de Lisbonne ou Examen de cet axiome 'Tout es bien'"(1756) und seinem "Candide"(1759) einen solchen Optimismus als naiv und infantil vor. Parallel dazu kam Kant im weit entfernten Königsberg zu dem Schluss, dass "der Mensch nicht der Zweck aller Dinge auf Erden sei."
Jede neue Interpretation der Welt braucht die Lücke, die das Abräumen der ihr vorhergegangenen hinterlassen hat. Insofern machte "Lissabon 1755" den Weg frei für für eine rationale, eher "gottlose" Aufklärung; die sich dann 1789 in den Ereignissen in Frankreich ihre Bahn brach: Der Mensch kann sich eben nur auf sich selbst verlassen.
Angesichts dieser Tragweite von "Lissabon 1755" erscheint der zitierte, dem Berater des portugiesischen Königs zugeschriebene Satz von den Toten, die zu begraben seien, und den Lebenden, für die zu sorgen sei, merkwürdig pragmatisch, auffallend "klein".
Und doch ist der Marques vom Pombal damit berühmt geworden.
Anscheinend war es zu allen Zeiten etwas Besonderes, die überbordende und mit (Be-)Deutung überfrachtete kollektive Wahrnehmung des Geschehenden herunterzubrechen auf einen von Rationalität getragenen Pragmatismus.
Und wenn man mit einem solch simplen Satz Eingang findet in die Geschichtsbücher , dann liegt das sicherlich auch in dem Mut begründet, dessen es zu allen Zeiten bedurfte, dieses "karge" Offensichtliche und Naheliegende laut auszusprechen. Und sich eben nicht in "Glaubensbekenntnissen" zu ergehen.
Für diese gab es zu Pombals Zeiten (nicht nur) in Portugal eine gefürchtete Institution: die Inquisition. Nur allzugerne hätte diese ihre Lesart des Geschehenen, die allfällige Sündhaftigkeit als Grund für das deshalb verdiente Strafgericht zum Anlass genommen, Gesinnungskontrolle und Tugendterror zu intensivieren.
Es ist eines der grossen Verdienste Pombals, dass er die Inquisition "säkularisierte", indem er sie unter die Kontrolle und Aufsicht des Staates stellte und ihr so "die Zähne zog": Seitdem brannten keine Scheiterhaufen mehr, die diskriminierende Be- und Kennzeichnung der zwangskonvertierten Juden als "Neue Christen" -- im Unterschied zu den "Alten" und damit "wahren" -- entfiel. Und (auch) "jüdisches Geld", schon damals als Ursache von allem Bösen verteufelt, floss in Handel und Industrialisierung und veränderte so die Verhältnisse, die bis dato der Landadel mit seiner Fixierung auf agrarische Rückständigkeit diktiert hatte.
Von Pombal in unsere Zeit.
Ein gutes Vierteljahrtausend nach "Lissabon" ist aus dem Grundgefühl des gottvertrauenden "Tout es bien" "Alles gut" ww. "Alles wird gut" geworden. In kleiner Münze auch zu finden in der Begrüssungsformel "Alles gut?"...
Nicht mehr ernst gemeint, sondern als ironische Brechung bzw. Beschwörung, das alles gut sein oder wenigstens werden/ausgehen möge. Oder, schlimmer: Die Verpflichtung reflektierend, durch Selbstoptimierung alles so in den Griff zu bekommen, dass eben "Alles gut" sei.
Gesinnungsschwanger sind die Zeiten allerdings immer noch:
"Bunt" will es sein, das "gute" Deutschland. Und gegen "rechts". 70 Jahre zu spät setzt es an zum nachholenden Sturm auf den Führerbunker. Diesmal will es alles richtig machen. Diesmal muss es gut werden, "Wir schaffen das".
Denken wir uns kurz den Marques de Pombal in unsere Zeit. Und bitten ihn, es nochmal zu tun: Mit einem "kleinen" Satz, der "unverschämterweise" alle Überfrachtung durch (Be-)Deutung abschüttelt, das Offensichtliche zu benennen. Was würde er (zu) diesem Deutschland sagen?
"Farbenblind im bunten Traum"?
Denn, auf Nachfrage:
-- Ja, natürlich ist da, wo 80 Millionen Platz haben, auch Platz für eine Million "Neuer"?
-- Aber: Nein, "euer" Flüchtling ist nicht das Material zur Wiedergutwerdung eines Landes mit schlimmer Geschichte. 1001 geworfene Teddybären ändern nichts daran, dass er nicht das Substrat für Heilung und Erlösung (von eben dieser schlimmen Geschichte) sein kann?
-- Nein, "der" Flüchtling ist nicht der "neue", bessere Mensch, der diese Gesellschaft "retten" kann?
-- Und nein, nicht jeder, der darauf hinweist, dass das Helfen eine rechnerische und faktische Begrenzung nach oben hat, ist deswegen von vornherein kaltherzig oder ein Rassist?
-- Nein, die vornehmlichste Frage ist keineswegs die der Bewunderung und Förderung neuer Frömmelei, genauso wenig, ob "der" Islam nun hierher gehört oder nicht?
-- Aber ein deutliches Ja dazu, dass die entscheidende Frage die ist, ob die gekommenen Menschen dazu gehören? Als eben solche, und nicht als "Merkmalsträger"?
Und ob sie das auch wollen?
-- Nein zur lächerlichen Attitüde der Pfaffen, die meinen, zur Predigt eine "echte" Schwimmweste tragen zu müssen, vor einem "echten" Flüchtlingsboot?
Wobei ihn dieses Bild vielleicht am wenigsten überraschen würde... die Reliquienbesessenheit der katholischen Kirche, die kannte der Marques ja nun zur Genüge...
-- Und nein, das Problem der meisten, die sich berufen sehen, gegen "den" Islam zu Felde zu ziehen, liegt nicht darin, dass sie mit selbigem "über Kreuz" lägen: dazu reicht ein Blick auf die nicht unerhebliche gemeinsame ideologische Schnittmenge zwischen "rechts" und orthodoxem Islam. Dass vielmehr ihre angebliche "Islamfeindlichkeit" ihr rassistisches anti-arabisches Ressentiment camouflieren soll?
-- Und doch, die grösste Herausforderung für die freie Gesellschaft im 21. Jahrhundert ist nicht der Nationalsozialismus, sondern der Islamismus?
-- Denn ja, die Frage muss immer wieder zulässig sein, ob Islam von vornherein mit "Frieden" zu übersetzen ist oder doch mit "Unterwerfung"?
-- Denn nein, es gibt keine "rechte" Islamkritik.
Religionskritik kann von rechts oder links kommen, aber sie ist niemals von ihrem Wesen her "links" oder "rechts". Und "rassistisch" schon gar nicht...
Es gibt sie, oder es gibt sie nicht.
Nichts Neues übrigens für den Marques: Er hat die Frage der Religionskritik dadurch beantwortet, dass er die Inquisition de facto abgeschafft hat.
Mut bräuchte er allerdings auch heute wieder, die Geschehnisse auf das herunterzubrechen, was sie letztlich sind, und sie von all dem Schwulst und Ballast zu trennen, mit dem sie überfrachtet werden. Und Schwulst und Ballast als das zu benennen, was sie sind.
PS: Eines der bekanntesten Blätter des sich im 18. Jahrhundert entwickelnden Zeitungswesens trug den Namen "Hamburger unpartheyischer Correspondent", Hervorhebung durch mich: In den "Genuss" des "Nudgings", also des Anschubsens des an die Hand zu nehmenden Lesers in die "richtige" (Denk-)Richtung qua "engagiertem Journalismus" kam selbiger erst später...
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Weiterführend:
-- Magnus Klaue: Ab durch den Filter
http://jungle-world.com/artikel/2016/05/53450.html
-- Jürgen Wilke: Das Erdbeben von Lissabon
-- Rüdiger Suchsland: Als ob der jüngste Tag kommen sey
http://www.heise.de/tp/artikel/21/21280/1.html
-- Sama Maani: "Warum wir über den Islam nicht reden können"