Zum deutschen 9. November
Eigene Aufnahme, gesehen an der Bibliothek des Jüdischen Museums Hohenems
Spoiler: Dieser Text will weder an Gefühle appellieren noch solche verletzen. Er appelliert vielmehr an den Kopf, denn mit selbigem sollte man sich auch und gerade dem Phänomen „Deutsches Erinnern“ nähern.
Alle Jahre wieder...Wenn Deutschland eines „kann“, dann Erinnerung.
Exportweltmeister ist es nicht mehr, aber als Erinnerungsweltmeister ist es unangefochten. Man kann das mit „gut so!“ zementieren.
Davon entspricht das „so“ den Tatsachen: Zement des Gründungsfundaments des „neuen Deutschland“ nach 1985 ist sie, die kollektive Erinnerung als offizielles Gedenken an die „schlimme Geschichte“ (entlehnt von Christian Meier). Aber ist Erinnerung von vornherein „gut“? Ist sie in „heiliger Unschuld“ einfach so da, oder will sie etwas?
Richard von Weizäcker war es, der 1985 in seiner berühmten Rede zum 8. Mai den Grundstein legte zur moralischen „Wiedergeburt“ Deutschlands. Einmal, indem er für die Deutschen den 8. Mai zu einem Tag (auch) der Befreiung denkbar machte.
Und dann, indem er qua Aneignung durch Zitat der jüdischen Weisheit "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung" den Startschuss gab für die mittlerweile etablierte Gedenkkultur in Deutschland.
Es war die Kehrtwende vom „Da war nichts“ über das „So schlimm war das nicht“ zum „Das war so schlimm“ bzw. „Das war noch viel schlimmer“.
Inzwischen ist dies als semi-offizielle Gedenkkultur kanonisiert und institutionalisiert.
Jeder Bürgermeister ist gut beraten, da zumindestens die Schirmherrschaft zu übernehmen und/oder das Unternehmen finanziell zu fördern.
Aber jede Form von Institutionalisierung läuft Gefahr, den Mythos zu kreieren und zu bedienen.
Jede Form von (semi-)sakraler, fast religiös grundierter „Feierlichkeit“ — siehe „Holocaust als Ersatzreligion?“ Raphael Seligmann(1) — hat eine gefährliche Nähe zum Kitsch — siehe Ruth Klüger, „KZ-Kitsch“(2).
Und jede Form stattgehabter Institutionalisierung unterliegt der Illusion des „Ein für alle mal. Und zwar so.“
Erinnerung aber verändert sich. Zwar ist Erinnern von vornherein erstmal repetitiv, trotzdem wird es jedesmal neu zusammengesetzt.
Die Shoa wird sich, mit zunehmender zeitlicher Entfernung von dem Geschehen, immer weniger als offene Wunde präsentieren.
Die Narbe, die darüber wächst, wird aber immer eine schiefe bleiben.
Daran wird rituelles Gedenken in Deutschland nichts ändern können.
So unangefochten und scheinbar selbstverständlich das deutsche Gedenken inzwischen auch sein mag:
Unter der inzwischen recht glatten Oberfläche des vorbildlichen utschen Gedenkens knisterte es schon immer.
Nicht, um sie zu würdigen, aber es sind erschreckend viele:
Da sind die alten und -- erschreckend erstaunlich -- neuen „Unverbesserlichen“, die Wippermann in „Autobahn zum Mutterkreuz“(3) trefflich beschreibt:
Man müsse auch das Gute sehen, was der Nationalsozialismus mit sich brachte…
Nicht viel besser sind die, die mit Verweis auf inzwischen gute 70 Jahre zeitlichem Abstand zu den Geschehnissen meinen, „irgendwann müsse ja mal Schluss sein.“
Natürlich wird den Intentionen solcher Leuten mit der Aufforderung zum kritischen Nachdenken über das deutsche Gedenken mit keiner Silbe das Wort geredet.
Es wäre jedoch abwegig, alle, die sich mit dem deutschen Gedenken schwertun, einfachheitshalber in ebendiese Ecke zu schieben.
— Die, die meinen, das sei ja alles richtig, aber „Alle Jahre wieder?“ die gleichen Worte und Gesten…ob da die gut gemeinte Erinnerung nicht an der Redundanz ersticke.
— Die, für die das oftmals unübersehbare öffentliche Moralisieren unerträglich ist
— Und die, die fragen, was denn tatsächlich als Triebfeder hinter dem eifrigen Gedenken steckt.
Denn ist es wirklich nur die „ewige“ Wiederholung das tatsächliche Problem, oder wird sie nur stellvertretend für ein tiefer sitzendes Unbehagen empfunden und ins Feld geführt?
Weiterhelfen soll hier ein kurzer Exkurs in die Geschichte.
Von „ewiger“ Erinnerung. Und was sie kann.
Konstante Wiederholung von Erinnerung allein muss nicht von vornherein der Grund sein für Überdruss und Langeweile:
Es gibt Dinge, die jeder von uns als Individuum ad libidum in seiner Erinnerung wieder und wieder „geschehen“ lässt.
Und ganze Gesellschaften erfinden sich durch „ewiges“ Anrufen der Vergangenheit immer wieder neu.
Als Beispiel das „1389“ für Serben und das „1714“ für Katalanen:
— Als Milosevic exakt 600 Jahre nach dem magischen Datum die „Seinen“ auf dem „kosovo polje“ zusammenrief, um das ausgeleierte Korsett des Kommunismus durch den Nationalismus zu ersetzen, war das der Startschuss für die Balkankriege mit all ihrer (zumal) in Europa für nicht (mehr) für möglich gehaltenen Brutalisierung.
— Das „1714“ der Katalanen zeigt gerade dieser Tage, dass der Bezug auf „olle Kamellen“ eine erstaunliche Wirkmächtigkeit in Richtung Errichtung neuer (Staats-)Grenzen zeitigt.
Dies übrigens gerade bei jungen Menschen dort.
Im Zuge dessen werden in der offiziellen katalanischen Erinnerung sogar Leute wie ein Durruti(dem als Anarchist weder Staatlichkeit und noch weniger Nation je am Herzen gelegen hatten) unverfroren „katalanisiert“.
Und ob das angestrebte Ziehen neuer Grenzen innerhalb Europas zum allerersten Mal in dessen Geschichte tatsächlich friedlich verlaufen würde, müsste erst die Zukunft zeigen.
Einer der Gründe für die Quicklebendigkeit solcher Mythen, die auf jahrhundertelang zurückliegenden Geschehnissen konstruiert werden, liegt ziemlich sicher darin, dass es sich in beiden Fällen um die von „Verlierern“ handelt:
Nach der jeweiligen Lesart begannen für die Serben mit der verlorenen Schlacht auf dem Amselfeld lange Jahrhunderte der Unterdrückung durch die „Türken“, die Katalanen mussten an ihrem „magischen“ Datum als Ende des spanischen Erbfolgekrieges die Tore Barcelonas bedingungslos für die Bourbonen öffnen.
(Wobei das, was man mit dem jeweiligen Ereignis verloren hatte, alles andere als „nationalstaatliche Freiheit“ war, auf welche Serben wie Katalanen heute rekurrieren möchten:
Das Reich eines König Lazar 1389 oder ein Katalonien 1714 waren eines ganz sicher nicht:
Nationalstaaten nach unserem heutigen Verständnis.)
Kurze gedankliche Gegenprobe zu diesen „Verlierermythen“:
Man versuche, Anfang des kommenden Monats Mai im heutigen Frankreich 5 Jugendliche auf die Strasse zu bringen zum Befeiern des Sieges über den deutschen Nationalsozialismus am 8. 5. 1945…..
Wer einwendet, der 8. Mai sei für Franzosen, die ja nicht nur aus „resistance“ bestanden, ja nun nicht so glorios gewesen, der schaue in die deutsche Geschichte und nehme den Sedantag (im deutsch-französischen Krieg kapitulierte die französische Armee am 2. 9. 1870 nach der Schlacht von Sedan):
Schon bald nach Gründung des 2. deutschen Kaiserreiches wurde er dessen Nationalfeiertag, ein rauschendes Fest mit Parade, Dankgottesdienst, Feuerwerk, Freudenfeuer und Turnerschau.
Keine 40 Jahre später, noch im Kaiserreich, wurde er kaum noch öffentlich begangen.
Siegermythen verstauben anscheinend deutlich früher.
Dieser kurze Exkurs in die Geschichte belegt 2 Dinge:
— Kollektives Erinnern lässt sich nicht „für die Ewigkeit“ verordnen.
Es wird andererseits aber auch nicht zwangsläufig schon deswegen „unmodern“, weil es in der Geschichte weit zurückliegt.
— „Gut“ ist kollektives Erinnern ganz sicher nicht von vornherin, angesichts des ihm immanenten Potentials an Brutalisierung und Destruktivität.
Keine Unschuld - nirgends
Was deutlich darauf hinweist, wie wichtig es ist, über jede Form kollektiver Erinnerung kritisch nachzudenken.
Denn keine Erinnerung ist von vornherein „unschuldig“.
Schon das individuelle Erinnern ist eher ein „Vorgang des aktiven Auswählens“ (Eric Hobsbawm*) als des (auch wenn es sicherlich gängigerweise so empfunden wird) „Überkommenwerdens“:
Man erinnert dies, und das eben nicht.
Erinnerung will (auch) immer etwas.
Sei es die der Opfer oder der Täter: Spätestens, wenn sie als kollektiver Akt zum Gedenken wird, liegt dieser Mechanismus auf der Hand.
Man wird hier einwenden, dass das deutsche Gedenken etwas ganz anderes sei, da man, weltweit erst- und einmalig, die Erinnerung an die eigenen Missetaten pflege.
Das ist richtig.
Dies bedeutet aber keinesfalls, dass dieses „Ausnahme-Gedenken“ schon deshalb nicht von bestimmten Absichten getragen wäre.
Und wer meint, die deutsche Erinnerung sei doch von vornherein friedlich und könne nur harmlos sein, der sei (wieder) auf Ruth Klüger verwiesen:
„Sentimentalität oder Brutalität, schon immer die beiden Seiten der gleichen Münze.“
Bei jeder Art von Erinnerung ist es essentiell, sich über diese ehrliche Rechenschaft abzulegen -- auch und gerade im Hinblick auf den moralischen benefit, den man daraus zieht, so -- und eben nicht anders -- zu erinnern.
Gerade das sich selbst als weltweit vorbildlich empfindende und weltweit meist auch so empfundene deutsche Gedenken ist eben nicht von vornherein absichtslos, nicht "gut", und auch nicht "unschuldig".
Es ist auch nichts, wofür man sich loben (lassen) könnte;
sich erinnern ist schlicht normal -- sich nicht erinnern(wollen) eher krank (Ruth Klüger).
Was wollen wir? Und wer ist gemeint?
"Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, so noch einmal von Weizäckers Rede.
Es ist eben gerade der 2. Teil dieses Satzes, den ein "gutes" Deutschland nur allzu bereitwillig internalisiert hat:
Die Erlösung (von der schlimmen Geschichte) als Endpunkt seiner kollektiven Erinnerung.
Offen spricht das niemand aus; aber wenn eine Schülerin, wie auf einer nachbereitenden Ausstellung im hiesigen Kulturkeller nachzulesen, am Ende des Besuchs von Birkenau von der „Atmosphäre eines versöhnlichen Abschieds“ spricht, dann spiegelt das genau diese Sehnsucht nach einem „guten Ausgang“ des Ganzen.
Und genau dazu brauchen wir sie, die verfolgten, meist toten Juden.
Die sind die „Guten“, durch die wir „gut“ werden wollen.
Wo sich doch die Frage stellt, um wen es letztlich und eigentlich geht:
Um „uns“ oder um „die“?
Man mag sich über die Formulierung „deutscher Sündenstolz“ an dieser Stelle empören.
Doch statt des Streits um grosse Worte wollen wir besser einen Blick werfen auf deren Relevanz beim Versuch der „Verarbeitung“ der schlimmen Geschichte.
Beispielhaft hierfür „Mein Vater, der Mörder. Eine Tochter klagt an.“ Ein Film von Yoash Tatari, WDR 2003.
Nach den Masstäben deutschen Gedenkens vorbildlich erforscht da jemand(Beate Niemann) die wahre Geschichte ihres Vaters. Der leitete 1942 im besetzten Belgrad den Einsatz der von ihm perfektionierten Gaswagen, in denen Juden systematisch erstickt wurden.
So weit, so furchtbar.
Phillipp Gessler über die Protagonistin in seiner hellsichtigen Besprechung(4):
„Sie hat das in Reinform, was der Philosoph Hermann Lübbe den "Sündenstolz" der Nachgeborenen über die Schuld der Väter genannt hat…..Dass es am Ende nicht um ihren Vater oder ihre Mutter, auch nicht wirklich um die Opfer ihres Vaters, sondern allein um sie, Beate Niemann, geht, verdeutlicht ein Satz, der tatsächlich alles sagt: "In dem Augenblick großer Wut habe ich mich gefragt, warum mein Vater sich nicht selbst umgebracht hat? Warum hat er nicht wenigstens das für mich getan?““ (Hervorhebung durch mich, C.L.)
Am Schluss braucht er die Protagonistin nur selber sprechen lassen, wenn sie klar macht, wer letztliche der gefühlte Leidtragende ist.
Und da ist man bei „Gefühlte Opfer: Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ von Jureit/Schneider(5), die die exkulpativen Intentionen einer ritualisierten Erinnerungskultur entwickeln.
Und nach dieser fatalen „Logik“ brauchen wir sie alle, die toten Juden.
Bis auf den letzten Mann/die letzte Frau.
Vielleicht wird erst jetzt vollends verständlich, wieso ein inzwischen fraktionsloser Gedeon, der mit seinem ranzigen Antisemitismus an den ikonischen „6 Millionen“ herumdeutelt, zum Ziel kollektiver Empörung, fast schon zum „Volksfeind“ wurde.
Was ja nicht falsch ist, nur:
Weit weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit sind die, welche nach Kräften an der jüdischen Staatlichkeit und damit der Lebensgrundlage für immerhin die Hälfte aller heute lebenden Juden sägen.
Und die sich nach wie vor der Geborgenheit im Schoss der Fraktion ihrer Partei erfreuen….
Denn viel mehr als die heute lebenden liegen uns anscheinend die verfolgten und ermordeten Juden von damals am Herz.
Und diese werden, so, wie die Nazis sie als Inkarnation des Bösen an sich „zwangskollektiviert“ hatten(viele der Betroffenen wurden erst da ihres „Jüdischseins“ wieder gewahr), im Gedenken des inzwischen „guten“ Deutschland idealisiert als „gute“, mehr oder weniger homogene Opfergruppe. Judentum also als die Summe seines Leidens, mit der Shoa als dessen (vorläufigem) Kulminationspunkt.
Lebenden Juden bleibt dann nur, sich im Netz der an sie gerichteten Erwartungen, Zuschreibungen und Projektionen zu verheddern. Beim grossartigen Leonard Cohen liest sich das in seinem Gedicht "Genius" am Schluss so:
"...For you / I will be a Dachau jew / and lie down in lime / with twisted limbs / and bloated pain / no mind can understand." (Für Dich / will ich Dachaujude sein / und mich niederlegen im Kalk / mit verrenkten Gliedmassen / und endlosem Schmerz /den niemand verstehen kann)
Als Schluss- und Höhepunkt aller Formen der ihm zugedachten Existenzformen(gewissenloser Bankjude/sentimentaler Broadwayjude/schmieriger Krämer) erwartet "den" Juden die Rolle, die von vornherein alles erstickt, was ein reales Leben ausmachen könnte: die des "ewigen, heiligen Opfers".
Eine Rolle, der sich Juden allerdings schon widersetzt und versagt haben, kaum dass die Shoa (als Vorgang) "zuende" war:
— Imre Kertesz(6), der mit der ihm eigenen „Lebensgier“ schon auf dem Fussmarsch nach der Befreiung von Buchenwald Richtung Ungarn unverschämterweise von der „Falle des Glücks“ sprach, das ihn im weiteren Verlauf seines Lebens erwarte.
Und, noch „krasser“, von seinem Recht auf Vergessen des Geschehenen…
Nur dumme Menschen werden dies als Aufforderung nach einem billigen „Schlusstrich“ missverstehen.
Es drückt vielmehr die Weigerung aus, für das weitere „Leben“ auf die Rolle des immerwährenden Opfers festgelegt und reduziert zu werden.
(Wenig überraschend, dass er, immerhin Träger des Nobelpreises für Literatur, in Deutschland so gut wie unbekannt ist.)
Folgerichtig stand er als allzeit bereiter „Zeitzeuge“ nicht zur Verfügung:
„Der Überlebende wird belehrt, wie er über das denken muss, was er erlebt hat, unabhängig davon, ob und wie sehr dieses Denken mit seinen wirklichen Erfahrungen übereinstimmt."
— Ruth Klüger, bereits mehrfach erwähnt(bekannt wurde sie durch „weiter leben“) zu genau diesem Punkt:
„Die Rolle, die so ein KZ-Aufenthalt im Leben spielt, lässt sich von keiner wackeligen psychologischen Regel ableiten, sondern ist anders für jeden, hängt ab von dem, was nachher kam, und auch davon, wie es […] im Lager war. Für jeden war es einmalig.“ (7)
Der Rolle als vorzuführender williger „Zeitzeugin“ verweigert auch sie sich:
„Neulich fragte mich eine Dame, die an einem oral history Projekt…arbeitet und es gut meinte, wieso sie erst jetzt von mir höre, warum ich mich noch nicht zu einem Interview gemeldet hätte. Ich erwiderte, ich mag nicht, diese Interviews sind mir suspekt, man werde zum Opfer, zum ausgebeuteten Leidensobjekt. Sie darauf, mit ehrlichem Erstaunen, aber auch mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme, was, ich wolle nicht Zeugnis ablegen? In die Defensive getrieben, verteidigte ich mich mit einem Hinweis auf ein Buch, das ich…geschrieben hätte, und da hätte ich ja schon Zeugnis abgelegt, das genüge doch. Sie gab sich nicht zufrieden.Eine Videokassette, meinte sie, sei um so vieles besser als ein Buch, der Gesichtsausdruck, die Gesten…Gerade das ist es, was mir diese Sammelwut von oral histories so verdächtig macht. Man wird nicht zum Zeugen, sondern zum Rohmaterial.“ (R.K.: Missbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch. S.35f.)
Genau so, wie die Juden sich damals eben nicht willig wie die Schafe zur Schlachtbank führen liessen (aber wer weiss das schon, dass die Nazis genau, um diesen Mythos aufrecht erhalten zu können, das KZ Sobibor dem Erdboden gleichmachten, nachdem es dort zum Aufstand und Ausbruch meherer hunderter jüdischer Häftlinge gekommen war?), verweigern sich die Sensibleren unter ihnen heute der ihnen zugedachten Rolle als willfähriges „Material“ für die deutsche Wiedergutwerdung.
Was sollten wir tun, und was sollten wir lassen?
— Wir sollten erinnern an die „schlimme Geschichte“. Qua kollektiven Gedenkens.
Mit fortschreitender Zeit geht dies ja nur so, schon weil es immer weniger Menschen gibt, die die Geschehnisse, auf welcher Seite auch immer, selber erlebt haben.
Nicht-Erinnern-Wollen ist/macht krank, nochmal Ruth Klüger.
Nicht-Gedenken-Wollen um so mehr.
— Wir sollten uns allerdings Rechenschaft ablegen über uneingestandene oder gar bewusste Sehnsüchte in Richtung des angestrebten benefits unseres Gedenkens — der letztlichen „Erlösung“ von der „schlimmen Geschichte“.
Dies wäre nichts anderes als der berüchtigte „Schlusstrich“.
Im Guten, versteht sich…
Dann träfe für unser Gedenken genau das zu, was Eike Geisel vor über 20 Jahren schon feststellte: „Erinnerung als die höchste Form des Vergessens“…(8)
— Wir sollten das hehre „Nie wieder“ und die Selbstautorisierung, die aus dem „Kommende Generationen sollen daraus lernen“(was de facto bedeutet: „von uns“…) hinterfragen.
Was gäbe es aus „Auschwitz“ zu lernen, was ein Mensch jedweder Generation nicht wüsste, hätte wissen müssen, wird wissen müssen?
Dass man Andere oder als solche Gedachte nicht ermordet?
Und industriemässig schon gar nicht?
„Du sollst nicht töten“ — gewinnt dies (übrigens eine jüdische „Erfindung“) als Grundlage jedweder globalen Ethik erst dadurch Gültigkeit, dass jeden Tag Menschen ermordet werden?
Welche Arroganz gerade gegenüber kommenden Generationen spricht aus dieser Haltung?
Und welche Sehnsucht, „Auschwitz“ nachträglich doch noch einen Sinn zu geben…**
— Wir sollten Respekt zeigen vor den Ermordeten. Sie gehören nicht uns.
Dazu gehört die Wahrung einer bestimmten Distanz.
Wenn durch die Zur-Schaustellung von Postkarten oder Papierfetzen mit letzten Notizen kleine, letzte, intimste Geheimnisse preisgegeben werden ……für was steht das?
„xxx war der Kosename, den er ihr gegeben hatte“ erklärt der begleitende Ausstellungstext.
Was ist tatsächlich Bemühen „den Opfern eine Stimme geben“, wo beginnt distanzlose Fledderei, Über-Identifikation und Aneignung?
Mir wurde schon sehr frostig, als mir auf diesen Einwand knapp und kühl beschieden wurde, was ich mich denn da so anstelle, wo denn mein Problem sei:
Das seien doch alles „Personen der Zeitgeschichte“…
Also doch eher „Material“ ?
— Wir sollten aufhören, „Auschwitz“ als Nagel zu benutzen, an dem wir alles mögliche, tatsächliche oder imaginierte Böse in unserer Welt heute aufhängen.
„Auschwitz“ ist ein (bislang) einmaliges Verbrechen in der Geschichte der Menschheit.
Nicht nur, aber vor allem an Juden. Auf jeden Fall genuin für diese konzipiert.
Das Unwürdigste — und Würde und Ehre der dort Ermordeten werden ja als ein Impetus des Gedenkens an diese „schlimme Geschichte“ bemüht — wäre es, wenn „Auschwitz“ auf dem Grabbeltisch der Beliebigkeit enden würde.
Wenn wir „Auschwitz“ tatsächlich ernst nehmen, dann müssen wir denen entgegentreten, die dieses Verbrechen nach Belieben, bestensfalls unüberlegt-naiv instrumentalisieren:
Dem „Auschwitz“ in der Tierzucht („Hühner-KZ“), an den indigenen Völkern(„US-Holocaust an den Indianern“) usw.
Oder gar bewusst ihren Antisemitismus damit abfeiern:
„Auschwitz“ in Palästina(„All this smells like…Auschwitz“, Jose Saramago, als nur ein unrühmliches Beispiel…)
— Wir sollten aufhören, beliebige Kollektive als „Juden von heute“ zu imaginieren/konstruieren.
Verfolgte gleich jeder Herkunft, ob mit oder ohne Religion, verdienen unsere Empathie und Hilfe nach all unseren Kräften. Eben weil es Menschen sind — nicht, weil es Kollektive, noch weniger, weil es „Gläubige“ wären.
Wenn daher ein angesehenes Institut wie das Zentrum für Antisemitismusforschung zum Schluss kommt, „Islamophobie“ *** heute sei schon so wie Antisemitismus gestern, dann ist dies eben auch sehr deutsch(10).
Ich kann mich hier nicht der Assoziation vom Versuch der Familienaufstellung nach Hellinger erwehren, mit umverteilten Rollen das Geschehene nochmal ablaufen zu lassen.
Nur eben diesmal besser.
Wir bauen uns den Juden nochmal nach, und diesmal machen wir alles richtig.
Als definitiven Beweis der Wiedergutwerdung Deutschlands.
Zu der das „vorbildliche“ Gedenken nur die Vorstufe war?
— Wir sollten unseren Standpunkt klar verteidigen.
Wenn Gedenken konstitutiv ist für eine Gesellschaft, muss man wissen, welche Gesellschaft man will.
Der Lauf der Zeit verändert Erinnerung nicht nur durch den sich vergrössernden Abstand zu dem, was erinnert wird/werden soll; die Aufforderung zur Erinnerung richtet sich eben auch immer andere, auch neu dazugekommene Menschen.
Wenn man „Auschwitz“ eben nicht als wohlfeilen Aufhänger im beliebigen Kampf gegen dies und das, sondern als genuin gegen Juden gerichtetes Verbrechen verstehen will — denn genau das war es , dann muss man diesen Standpunkt auch verteidigen.
Im Land, wo die Idee zu „Auschwitz“ geboren wurde, hatte es die Qualität eines Tabubruchs, als im Sommer 2014 der Pöbel auf Berlins Strassen ungehindert „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ skandieren konnte.
Dass es sich dabei durchweg um Jugendliche mit arabischem, türkischem und/oder islamischen Hintergrund handelte, darf nicht der „Toleranz“ oder „Buntheit“ wegen unter den Teppich gekehrt bzw. mit einem verständnisinnigen „Wegen Gaza“ abgetan werden.
Von toten und anderen Juden
— Die grösste, aber notwendige „Zumutung“ zum Schluss.
Wie halten wir es mit den lebenden Juden?
Sind die gerademal gut genug zur „kompetenten“ Abnahme von unserer Reue und Busse?
So, wie (nochmal exemplarisch) für die Protagonistin im bereits angesprochenen Film „Mein Vater, der Mörder“.
Der Rezensent:
„Dazu passt, dass sich ihr permanentes Betroffenheitsgesicht in der 45-Minuten-Dokumentation nur einmal zu einem fast stolzen Lächeln verzieht:
Als eine Jüdin Beate Niemann sagt, sie finde es "toll, dass Sie das alles erzählen““ (4).
Man sehe dem Autor die Unverfrorenheit**** nach, eine d e r Ikonen deutschen Erinnerns zum Gedankenexperiment heranzuziehen:
Anne Frank.
Welche Aufmerksamkeit würde ihr in eben diesem „neuen“ Deutschland zuteil, wenn sie die Shoa überlebt hätte, nach Israel emigriert wäre, und dort dieser Tage von einem palästinensischen Messerstecher mit dem Ruf „itbahh al yahud“ (Schlachtet die Juden) erstochen würde?
Wenn wir diese merkwürdige Diskrepanz unseres Verhältnisses zu „toten Juden“ und „Juden heute“ nicht überdenken und verändern, bleibt der deutsche 9. November ein Glasperlenspiel.
Weiterführend:
* Als „Auflockerung“ zwischendrin in der Zumutung all der schweren Kost:
„Hobsbawm“ als zitierter Name des vor wenigen Jahren gestorbenen englischen Universalhistorikers („Das lange 19. Jahrhundert“) ist kein Schreibfehler.
Zumindestens hat er nicht hier stattgefunden.
Seine jüdischen Vorfahren hatten den Namen „Obstbaum“ getragen, in der auf dem englischen Konsulat in Alexandria ausgestellten Urkunde wurde das zu „Hobsbawm“.
Eben so, wie man es spricht….
** Erhellend die Spiegelung des Versuchs der „Verarbeitung“ des Geschehenen auf der anderen, der jüdischen Seite.
Der Philosoph und Rabbiner Emil Fackenheim führte in die Halacha das „Am Yisrael Chai“(Das Volk Israel lebt) als 614tes und wichtigstes Gebot ein:
Jeder lebende Jude als ein „Trotzdem“, ein Triumph über die stattgehabte Barbarei.
Und Hitler eben nicht zum posthumem Sieg verhelfen, indem man auf der Suche nach einem „Sinn“ von „Auschwitz“ verzweifelt, sich selbst oder das Geschehene vergisst.
Damit wird die Sicherung der Existenz des jüdischen Volkes ein historischer, und nicht ein religiöser Auftrag.
Jegliche „Sinnsuche“ für „Auschwitz“ führt dagegen in die Verirrung(9).
*** Islamophobie ist ein Kampfbegriff, geprägt von Khomeini(„Der Islam ist politisch — oder er ist nicht“), mit dem jegliche Form der Islamkritik von vornherein als krankhafte, mithin therapiebedürftige Angststörung diskreditiert werden soll.
Wer diesen Begriff übernimmt, ist den Mullahs schon auf den Leim gegangen.
Oder möchte ihnen auf den Leim gehen(11).
**** “ …Klüger weist anbiederndes Mitgefühl schroff von sich, und sie provoziert:
„Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung.““
Das, zusammen mit dem ironischen „Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit“ von Hannah Arendt sollte uns ermutigen und anspornen, durchaus „laut“ über den deutschen 9. November nachzudenken.
Quellen:
(1) www.hagalil.com/archiv/2000/05/seligmann.htm
(zu „Holocaust-Gedenken als Ersatzreligion?“)
(2) www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15006
(zu „Kitsch und Erinnerung“)
(3) www.outside-mag.de/issues/3/posts/69
(zu „Autobahn zum Mutterkreuz“)
(4) www.taz.de/1/archiv/?dig=2002/11/04/a0165
(zu „Um wen geht es?: Vom Sündenstolz der Nachgeborenen“)
(5) Jureit/Schneider „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Klett-Cotta 2010
(6) www.judentum-projekt.de/persoenlichkeiten/liter/kertesz/index.html
(zu Imre Kertesz)
(7) www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11848
(zu Ruth Klüger)
(8) www.hagalil.com/2016/01/eike-geisel/
(zu Eike Geisel)
(9) www.hagalil.com/judentum/rabbiner/fackenheim.htm
(zum 614. Gebot Fackenheims)
(10) www.matthiaskuentzel.de/contents/das-zentrum-fuer-antisemitismusforschung-im-kampf-gegen-islamophobie
(zu „Muslime von heute sind wie die Juden von gestern“)“
(11) www.taz.de/!5135490/
(zum Unterschied zwischen Islamkritik und „Islamophobie“)