November 1983....
Ein kalter, nebliger Novembertag kündigt einen weiteren, verhaßten Schultag an.
Mißmutig stapfe ich mit meinen abgetragenen Stiefeln durch den Schneematsch - es hatte dieses Jahr früh zu schneien begonnen.
Als in von der Ottakringerstraße in die Helblinggasse einbiege, fängt mein Herz schneller an zu schlagen. Ich sehe mich nach "Karli" um, einem Schüler aus dem zweiten Stock und der Albtraum schlechthin für Jedermann. Würde er mir auch heute wieder auflauern? "Karli" war ein verwöhnter Bengel, immer viel Geld in der Tasche, aber meistens sich selbst überlassen - was ihn dazu bewegt, seinen Frust an Schwächere auszulassen. Ich biege in die Geblergasse ein, froh, an diesem Tag scheinbar verschont geblieben zu sein. Als ich das Gelände der Hauptschule erreiche, ist schon viel los. Die Jungs machen einen heiden Krawall, die Mädels stehen in Cliquen abseits und machen sich über andere lustig. Es wird geschwatzt, die neuesten Modetrends präsentiert und die neueste Anzahl der "Flöhe" verglichen (kleine Holzfigürchen an Schnüren und absolut "Hip" damals. Je mehr man hatte, desto "IN"). Ich verdrücke mich in eine Ecke und sehe zu, möglichst nicht aufzufallen. Erst gestern hat man mir meine Schultasche vom Rücken gerissen, ihren Inhalt über die gesamte Strasse verteilt und unter johlenden Rufen von "Altscheißer, Altscheißer!" in den Kanal gekickt.
Die Schulwarte stehen schon an beiden Eingängen des Gebäudes - bereit zur Taschenkontrolle, die erst kürzlich eingeführt wurde, weil Schüler mit Schlagringen, Butterflys und Rambomessern verletzt wurden.
Ich warte, bis der Großteil im Gebäude ist, dann folge ich. An meinem Garderobenplatz erwartet mich die nächste Überraschung des Tages. Man hat mir die Hausschuhe geklaut - einen davon finde ich im Gang in der Mülltonne, der zweite bleibt verschwunden. Meine Mutter wird begeistert sein.
In der Klasse herrscht die übliche drückende Hitze, die Ausdünstungen der 35 anderen Schüler bringen mich fast um. Die erste Stunde ist Mathe und mir wird wieder flau im Magen. Die Mathe-Lehrerin hasst mich seit dem Tag, als ich (der kleine "Naseweis") ihr peinlicherweise bei einem Schulwandertag erklären musste, dass es sich bei der von mir gefundenen "Schlange" um eine Blindschleiche handelte. Blöd, denn wir hatten sie auch ausgerechnet in Biologie. Ich weiß, dass ich nun wieder leiden werde. Sie wird mich wieder vor der ganzen Klasse lächerlich machen und die ganze Klasse wird wieder über mich lachen. (Warum hab ich damals nicht die Klappe gehalten??)
Ich kann mich die ganze Stunde unsichtbar machen und dann haben wir Deutsch. Ich liebe dieses Fach und krame stolz mein Referat hervor, dass wir anlässlich der letzten Exkursion ins Naturhistorische Museum aufgegeben bekamen. Eine Woche arbeitete ich daran, aber der Klassenvorstand, der auch Deutschlehrer ist, entscheidet sich fürs Vorlesen von Kapiteln eines Buches, das wir alle bekamen. Ich fange an, mich zu langweilen, denn ich weiß, dass es nun mühsam wird. Viele in dieser Klasse können weder richtig Deutsch, noch beherrschen sie das Lesen und Schreiben. Ich hole mir heimlich ein Buch von Charles Dickens hervor und beginne zu lesen. Das bringt mir Ärger ein, denn ich "ignoriere" den Unterricht. So steht es dann auch im Mitteilungsheft, dass meine Mutter unterschreiben muss.
Plötzlich klopft es an der Tür und draußen hören wir einen Tumult. Wieder einmal steht der Vater einer türkischen Mitschülerin da und beschwert sich lautstark, warum das Kreuz noch immer in der Klasse hängt und seine Tochter am Turnuntericht teilnehmen muss. Man entfernt ihn - wieder einmal. Als ich "mein" Kapitel bekomme und dieses flüssig und moduliert vorlese, spüre ich die Hassblicke der anderen in meinem Rücken. Anstatt Lob zu erhalten, ermahnt mich der Deutschlehrer, auf die Anderen Rücksicht zu nehmen. Ich habe keine Ahnung, was er meint und sage "Ja, Hr. Fachlehrer".
In der großen Pause werden bei Minustemperaturen alle Fenster aufgerissen und die Gluthitze weicht arktischer Kälte. Wir dürfen den Klasssenraum nicht verlassen und so steigen sich die Schüler gegenseitig auf die Zehen, während die Lehrkräfte draußen am Gang gemütlich ihre Pausenbrote mampfen. Die Gelegenheit ausnützend, weil - wie immer - unbeaufsichtigt, versammeln sich ein paar Klassenrabauken um meinen Tisch, beginnen an meinen Haaren zu zupfen und meinen Namen zu verunglimpfen. Unter schreien und gröhlen flüchte ich auf die Toilette, obwohl wir Anweisung haben, nicht alleine zu gehen, nachdem ein paar Wochen zuvor eine Schülerin aus der Nebenklasse von einem Mehrfach-Sitzenbleiber beinahe vergewaltigt wurde. Auch in meiner Klasse gibt es solche "Schätzchen". Einer davon ist schon 16 Jahre alt. Die Türen der Toiletten haben allesamt Löcher, die von den größeren Burschen mit Fäusten und Fußtritten hineingedroschen wurden. Ich überzeuge mich davon, das niemand in der Toilette ist und verbringe meine Pause hier - wie an fast jedem Tag.
Die Stunden ziehen sich hin - es folgen Geographie, Geschichte, Biologie - in denen meine aufzeigende Hand weitestgehend ignoriert wird. Die Lehrer nehmen lieber ihre Klassenlieblinge dran. Dann klopft es erneut an der Tür und mein erster Lichtblick des Tages erscheint. Meine Beratungslehrerin Gisela. Ich habe sie seit ein paar Monaten, als man befand, dass ich aus irgendwelchen, nicht nachvollziehbaren Gründen offensichtlich "Probleme" haben müsse - einige Monate zuvor wollte ich tatsächlich aus dem Fenster springen, weil ich es nicht mehr aushielt. Mit Gisela kann ich über alles reden: Meine Ängste vor den Mitschülern, meinen Frust, die ungerechte Behandlung der Lehrer, die absichtlich schlechteren Noten, die ich verpasst bekomme. Sie kann wenig tun, aber sie hört zu. Diese eine Stunde, einmal in der Woche, ist die einzige Zeit, in der ich mich wohl und sicher fühle. Gisela bringt mir oft etwas zu essen mit - sie weiß, dass wir wenig haben und es oft nicht zur Schuljause reicht. Sie erkundigt sich danach, wie es mir nach dem Tod meines geliebten Vater geht und ich erzähle ihr, wie sehr es mich schmerzt, dass meine Mitschüler seinen/meinen Namen verhunzen - unter den Augen der Lehrer, die sich nicht trauen, einzugreifen, oder weil es ihnen egal ist. Sie verspricht, mit ihnen zu reden, aber ich weiß, dass das wenig fruchten wird....
Die Stunde mit Gisela war die Letzte des Tages und ich mache mich auf den Heimweg. Wie an jedem Tag lasse ich auch heute den Großteil der Schüler das Gebäude verlassen und verstecke mich solange auf der Toilette. Draußen sehe ich mich ständig um, denn manchmal warten sie um die Ecke auf mich. Ein weiterer verhasster Schultag ist endlich zu Ende. Zuhause vergrabe ich mich nach den Hausaufgaben in meine geliebten Bücher, die mich in andere Welten bringen und in denen es keine Schule, Lehrer, oder Angst gibt.
Leider kann ich in diesen Welten nicht verweilen und morgen ist wieder Schule.....
Die Hauptschule Geblergasse ist heute eine sogenannte "Vorzeige-Schule". Sie wird unter "Projekt- und Integrationsschule" geführt, mit Schwerpunkt Informatik und Berufsorientierung. Alles wunderbar und blütenweiss. Einige der Lehrkräfte von damals sind auch heute noch aktiv......