"Realitätsfremd". Das neue Lieblingswort der selbst ernannten Alleswisser. In gefühlt jedem dritten Forumskommentar aller Medien nennt irgendjemand mit erigiertem Zeigefinger mich und meinesgleichen, also uns linkslinke Gutmenschen und Willkommensklatscher „realitätsfremd“.

Ihr Stacheldraht- und Obergrenzen-Befürworter, „Das Boot ist voll“-Gröler, „Festung Europa“-Erbauer, Mikl-Leitner-Beklatscher, Kurz-Bewunderer, Bürgerwehr-Enthusiasten, FPÖ-und-AfD-Schwachsinns-Nachplapperer, die ihr warm, sicher und satt in euren Wohnzimmern hockt, während draußen ein eiskalter Wind durch Millionen von Leben bläst – ihr seid es also, die die Realität gepachtet haben.

Ihr rechnet uns weltfremden Träumern wortreich vor, wie wir alle bald am Hungertuch nagen und im Elend versinken werden, wenn wir weiterhin „alle nehmen“. Und wie sowohl Österreich als auch Deutschland in Anarchie versinken werden. Was aus vielerlei kolportierten Polizeiberichten zu entnehmen wäre – nämlich dass die Kriminalität durch Ausländer seit der Ankunft der Flüchtlinge keineswegs gestiegen ist, sich nur die Gewaltdelikte von Rechts und gegen Ausländer dagegen sehr wohl vervielfacht haben – das lasst ihr dabei gerne mal außen vor. Warum? Ganz einfach: Weil ihr es ja ohnehin viel besser wisst.

Und die Fähigkeit, tausend pseudo-fundierte Ausreden dafür zu finden, dass man nur ja kein einziges Quäntchen von all unserem Wohlstand für weniger Glückliche opfern muss, habt ihr zu wahrer Meisterschaft entwickelt.

Das Bild der Passivsportler vor ihren Fernsehern, die, während sie Bratl und Bier in ihren Wampen versenken, dir ganz genau und beeindruckend oberg´scheit schildern können, wie Fussball, Schispringen oder was auch immer wirklich geht, und die, nachdem sie vielleicht sogar mit einem herrlich spektakulären Unfall verwöhnt wurden, augenblicklich die einzig gültige Ursachenanalyse samt allfälliger medizinischer Prognosen zur Hand haben (Betroffenheit inklusive), kommt mir da in den Sinn.

Ja, wir mögen Träumer sein. Wir, die wir immer noch nicht bereit sind, auf Menschenrechte, Mitgefühl und Solidarität mit den Ärmsten der Armen zu pfeifen.

Wir, die wir noch immer nicht genügend Angst um unseren Zweitfernseher (oder worum auch immer ihr fürchtet) haben, um Menschen ins Meer zurückstoßen, an ein grausames Erpresserregime verschachern oder überhaupt in ihren scheußlichen Krieg zurückschicken zu wollen.

Wir, die wir einfach nicht fähig sind, eine völlig entmenschlichte Politik gutzuheißen und uns einzureden, es ginge nicht anders.

Wir, die wir immer noch mit den Tränen kämpfen, wenn wir all diese dramatischen - und sehr realen - Bilder von Familien sehen, die irgendwo in Schlamm und Dreck vegetieren und nicht wissen, wie es weiter gehen soll.

Wir, deren Betroffenheit sich nicht mit 30 Toten in Brüssel oder Paris erschöpft, sondern sehr viel weiter, umfassender und tiefer ist.

Wir Unbelehrbaren, die wir immer noch lieber einen Haufen Flüchtlinge als Nachbarn hätten als auch nur einen einzigen Nazi.

Wir sind also die „Realitätsfremden“. Na gut, dann befassen wir uns einmal näher mit diesem Vorwurf.

Realität – was ist das eurer Meinung nach? Wie meint ihr das? Habt ihr sie erfunden? Gibt es nur die eure? Oder etwa doch mehr als eine (was inständig zu hoffen ist)?

Nein, ich bin nicht blind, ich sehe sie sehr genau, eure Realität, die hoffentlich nicht die einzige ist, und sie ist kalt und gruselig und bedrohlich. Sie verwechselt Menschenverachtung mit Vernunft, Grausamkeit mit Notwendigkeit, Charakterlosigkeit mit Diplomatie und das peinliche Gestrampel von unfähigen Soziopathen mit ernsthafter Politik.

Stimmt, diese eure Realität, von solcher Borniertheit und Egozentrik geschaffen, dass man daran verzweifeln könnte, ist mir tatsächlich fremd. Völlig fremd. Darüber bin ich froh, denn um nichts in der Welt möchte ich in ihr gefangen sein. Mir graut vor ihr und ihren Erschaffern. Ich habe nichts, gar nichts mit ihr zu tun.

Okay, schimpft mich und all die anderen Idealisten gerne weiterhin tausendmal "realitätsfremd". Oder auch "Realitätsverweigerer", ein Wort, das ihr ja auch recht gern habt in euren Ergüssen. Eure Realität zu verweigern ist das einzige, das einem anständigen Menschen übrigbleibt, wenn er sich weiterhin im Spiegel anschauen möchte. Ich nehme solchen Vorwurf als Kompliment.

So wie ich mich ja insgesamt durch jedes Schimpfwort und jede Verächtlichmachung, die mir und anderen Idealisten aus euren empathielosen selbstherrlichen Experten-Predigten entgegenblubbert, geradezu geadelt fühle.

Also danke.

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Waldschrat der Erste

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