«Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen», Teil 2/2

Zur Sub- und inneren Kolonialgeschichte der Arbeitsgesellschaft. „Wie schafft man es, dass Menschen arbeiten wollen und sich das Produkt ihrer Arbeit wegnehmen lassen?“ Im zweiten Teil seines Artikels erzählt Götz Eisenberg, wie es gelang, Menschen entgegen ihren natürlichen Bedürfnissen nach Freiheit, Freizeit, Bequemlichkeit und Lust eine rigide „Arbeitsmoral“ anzudressieren. Das zentrale Problem der kapitalistischen Produktion erwies sich als lösbar: „Man verpasste den Zöglingen eine Seele, die als innere Ergänzung des äußeren Zwangs wirkte.“ (Götz Eisenberg, 1. Teil des Artikels hier)

Außerhalb der Fabrik führte man einen hartnäckigen Kampf gegen die Tradition des »blauen Montags«, an der die Arbeiter auch unter gewandelten Bedingungen zunächst festhielten, und gegen die große Zahl von Festen und Feiertagen, Kirchweihen und Jahrmärkten. Nach den Kriterien der ökonomischen Vernunft erschien das nicht nur als unerträgliche Vergeudung von Zeit und Geld, man fürchtete auch die alkoholischen Exzesse und die plebejische Widerspenstigkeit vieler dieser Feste, die Entladung, Enthemmung und die explosionsartige Verausgabung von Energien, die man gerade stauen und in kontinuierlich verausgabte Arbeitskraft transformieren wollte (vgl. Lafargue 1978, S. 23).

Auf Dauer konnte man sich allerdings auf Systeme und Einrichtungen des puren äußeren Zwangs nicht verlassen. Man musste dafür sorgen, dass die Zwänge nach innen wanderten und sich dort als »innere Selbstzwangapparaturen« (Elias) festsetzten. Wie schafft man es, dass Menschen arbeiten wollen und sich das Produkt ihrer Arbeit wegnehmen lassen? Wie erzeugt man gefügige und nützliche Körper, wie akklimatisiert man die Menschen wirkungsvoll an die Regelmäßigkeit und die lineare Zeit des Kapitals?

A. Ure gelangte nach den Erfahrungen mit der ersten Arbeitergeneration zu dem Schluss, dass mit Arbeitern, die der Pubertät entwachsen seien und aus dem Handwerk oder der Landwirtschaft stammten, für industrielle Zwecke nichts anzufangen sei (vgl. Sombart 1928, S. 425f). William Temple machte 1770 den Vorschlag, arme Kinder bereits im Alter von vier Jahren in die Arbeitshäuser zu schicken, wo sie Fabrikarbeit leisten und Schulunterricht erhalten sollten. »Es ist sehr nützlich, daß sie auf irgendwelche Art ständig beschäftigt werden, wenigstens 12 Stunden am Tag, ob sie damit nun ihren Unterhalt verdienen oder nicht; denn wir hoffen, dass sich auf diese Weise die heranwachsende Generation so sehr an ständige Beschäftigung gewöhnen wird, dass sie diese zuletzt als angenehm und unterhaltend empfindet…« (zit. nach Thompson 1980, S. 53).

Es begann die grauenhafte Periode der Kinderarbeit. Kinder waren billig zu haben, anstelliger und leichter an den Rhythmus der Fabrikproduktion zu gewöhnen. Kinder ab fünf Jahren hatten bis zu 16 Stunden täglich in schlecht beleuchteten und belüfteten Räumen schwere Arbeiten zu verrichten. Parallel dazu begann man, Kinder in die Schule zu schicken. Und was lernten sie dort? In erster Linie Sekundärtugenden und Arbeitshaltungen. Der Rhythmus der schulischen Sozialisation entsprach dem der Produktion. Man unterteilte die Zeit in kleine Abschnitte, brachte den Kindern bei, auf Glockenzeichen zu reagieren, man zwang sie, pünktlich zu sein und stillzusitzen, man korrigierte ihre Körperhaltung und ihre Gesten, man disziplinierte ihr ganzes Verhalten und bestrafte jede noch so geringfügige Abweichung und Nachlässigkeit mit körperlichen Züchtigungen und Demütigungen. Man kolonialisierte die Köpfe, indem man sie mit funktionalem Wissen vollstopfte, und die Körper, indem man sie desexualisierte und zum Arbeitsinstrument herrichtete, und man verpasste den Zöglingen eine Seele, die als innere Ergänzung des äußeren Zwangs wirkte.

Die industrielle Rationalität mischte sich schließlich sogar in die Aufzucht und Pflege des Neugeborenen und des Kleinkindes ein. Normen der Distanz erhoben sich zwischen Mutter und Kind: Man ging nicht mehr hin, wenn das Baby schrie, man legte es weg, nahm es auf und ernährte es nach dem Rhythmus der Uhr und nicht nach dem der kindlichen Bedürfnisse, man dressierte es, seine Exkremente pünktlich auszuscheiden, und man sorgte dafür, dass es sich vor seinen Körperflüssigkeiten ekelte. Die heiligen Grundsätze der »schwarzen Pädagogik« (Rutschky), unter deren Anweisungsstrukturen Erziehung nun mehr und mehr geriet, lauten: Man beginne sofort nach der Geburt damit, den Eigensinn des Kindes zu brechen, die anarchischen Formen seiner Lust einzudämmen und den unreglementierten Trieb zu bändigen.

Klaus Theweleit hat darauf hingewiesen, dass auf diese Weise empfangene und erzogene Menschen »nicht zu Ende geboren« werden. Da, wo sich unter günstigeren Umständen ein Ich hätte entwickeln können, haben diese Menschen einen unter Schmerzen angeprügelten Körperpanzer, eine Art Berstschutz, der verhindert, dass sie fragmentieren und auseinanderbrechen. Das prekäre Ich des Nicht-zu-Ende-Geborenen bedarf der äußeren Stützung, eines Korsetts, das die Schwächen der Ich-Struktur kompensiert. Die landläufige Form dieses Korsetts ist die Arbeit, die zum wichtigsten Ich-Erhaltungsvorgang wird. Arbeit hält ihn bei der Stange und sichert ihm das reduzierte Überleben, und zwar nicht nur, weil sie seine materielle Reproduktion über den Lohn garantiert, sondern weil das Arbeiten sein Ich vor dem Fragmentieren und Zusammenbrechen bewahrt, vor dem Hereinbrechen verschlingender Symbiosen (vgl. Theweleit 1978, S. 244ff.).

Das Zusammenspiel all dieser Prozesse führt dazu, dass Arbeit schließlich zur zweiten Natur des Menschen wird. Die physische und manifeste Gewalt aus der Aufstiegsphase der kapitalistischen Produktionsweise kann sich in dem Maße zurückziehen, wie die Menschen sich selbst Zwang antun. Die Mauern, hinter die man sie einst sperrte, sind jetzt im Inneren aufgerichtet. Es ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, diesen Zustand mit Freiheit zu verwechseln und aus der Tatsache, daß die Ketten abgeschafft sind, mit denen man ehemals die Galeerensträflinge an die Ruderbank fesselte, zu schließen, die Galeerensträflinge selbst seien abgeschafft worden.

Die Imperative der kapitalistischen Produktion und der ökonomischen Vernunft sind als eine Art trojanisches Pferd in die Menschen eingedrungen und haben den Status von Quasi-Instinkten und bedingten Reflexen angenommen. Lebensgeschichtlich frühe Rhythmisierungen der kindlichen Bedürfnisse, die Dressur der Körper und der Motorik lassen Arbeit zu einer ungreifbaren und zugleich prägnanten Determinierung werden. Als Folge dieses epochalen psychischen Umrüstungsprozesses bildet sich eine zweite innere Natur des Menschen heraus, ein Fundus von tief eingewurzelten Automatismen, (Wiederholungs-)Zwängen und Abwehrmechanismen. Die Rigidität und Zwanghaftigkeit des Arbeits- und Alltagsverhaltens resultiert also nicht oder nicht in erster Linie aus dem Einfluss eines moralischen Diskurses: Einem solchen Zugriff könnte der Mensch sich relativ leicht entziehen. Wenn das Überich wie ein Reflex funktionieren soll, benötigt es als Unterbau und Komplizen einen kolonialisierten Körper, der von sich aus gewisse gefährliche Impulse wie den Wunsch nach einem Mehr an Glück und Zeit zum Leben abwehrt.

Am Anfang flohen die Menschen vor den Verhaltenszumutungen der Lohnarbeit und der Zeitdisziplin und zogen es mitunter vor, bettelnd durch die Lande zu ziehen. Auf dem Höhepunkt des gigantischen Dressur- und Umrüstungsprozesses waren Arbeiter von der psychischen Dekompensation und psychosomatischen Erkrankungen bedroht, wenn sie arbeitslos wurden. Wie die Studie von Marie Jahoda und anderen über »Die Arbeitslosen von Marienthal« aus den frühen 30er Jahren zeigt, wird Arbeitslosigkeit erlebt wie ein sozialer Tod. Seiner Identitätsprothesen und des Metronoms beraubt, das bislang den Rhythmus des Lebens vorgab, fallen die Arbeitslosen aus ihren Sicherheiten ins Nichts der Desorientierung, Verzweiflung und Resignation. Getrimmt auf extreme Zeitregulierung wissen sie mit dem plötzlichen Reichtum an freier Zeit nichts anzufangen und verhalten sich wie ein jahrelang im Käfig gehaltener Tiger, der, nachdem man ihm die Freiheit zurückgegeben hat, weiter seine Gitterstäbe abschreitet und sich nach seinem Käfig und seinen Sicherheiten zurücksehnt. In einer Gesellschaft, in der sich die Vergesellschaftung für die meisten Menschen über Lohnarbeit herstellt und Sozialisation im wesentlichen Arbeitshaltungen vermittelt, büßt, wer seine Arbeit verliert, eben mehr ein als nur seine Einkommensquelle: seinen Ort, seine soziale Existenz, seine Kontakte und Beziehungen, und er wird seines wichtigsten Ich-Erhaltungsmechanismus beraubt, der äußeren Stützen seines geschwächten Ichs. Das, was man den Pensionierungstod nennt, ist wohl der krasseste Ausdruck der Unterordnung des Lebens unter die entfremdete und entfremdende Arbeit.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts machte in den Metropolen des Kapitals kaum noch jemand der Arbeitsgesellschaft das Realitätsmonopol streitig. Psychiater wie Emil Kraepelin und Karl Wilmanns fassten Müßiggang und Landstreicherei jetzt in Termini einer medizinisch-psychiatrischen Pathologie: Wer nicht arbeiten will, sondern sich »gleichgültig mit den Händen in den Taschen herumdrückt, ist geistesgestört und ein Fall fürs Irrenhaus und eben nicht mehr in erster Linie für Gefängnis, Zucht- und Arbeitshaus« (vgl. Wilmanns 1906). Die Arbeiterbewegung hatte ihren anfänglichen Widerstand gegen die Verhaltenszumutungen der kapitalistischen Industrialisierung aufgegeben und versuchte, das Bürgertum gewissermaßen auf der Überich-Seite zu überholen. Der deutsche sozialdemokratische Arbeiter um 1900 herum war stolz auf seine anständige Lebensführung, achtete streng auf seine Reputation, erzog seine Kinder zur Wehrhaftigkeit und sah verächtlich auf Obdachlose, Faulenzer und Bummelanten herab, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Diejenigen, die man so lange der Unzuverlässigkeit und der Faulenzerei geziehen hatte, hatten sich inzwischen das bürgerliche Wertsystem zu eigen gemacht und wendeten es gegen die Bourgeoisie, die aus der Sicht der Arbeiter zu einer Klasse der Schmarotzer und Couponabschneider verkommen war. Erst in der sozialistischen Gesellschaft würden die Werte der Arbeit und der Produktion zur vollen Entfaltung kommen.

Dem organisierten Sozialdemokraten war der Kapitalismus nur noch zu unordentlich und anarchisch-ungeplant, und die Zukunftsgesellschaft stellte er sich als ein gigantisches Arbeitshaus mit Arbeitspflicht für jeden vor. Etwas von der Gewalt, die nötig war, um Menschen in Lohnarbeiter zu verwandeln, ist noch in der idiosynkratischen Wut des arbeitenden Menschen auf den spürbar, der es wirklich oder vermeintlich leichter hat, der nicht so hart arbeitet wie man selbst. So nimmt es eigentlich auch nicht wunder, dass die Kolonialpolitik des Kaiserreichs auf keinen nennenswerten Widerstand seitens der Arbeiterbewegung stieß und von August Bebel im Reichstag 1906 als »Kulturtat« grundsätzlich begrüßt wurde: »Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften … zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind« (zit. nach: Die deutsche Arbeiterbewegung 1976, S. 344f.).

Weiter unten an der Basis wird man es weniger vornehm ausgedrückt und gedacht haben: »Wird Zeit, dass dem faulen Neger die Hammelbeine langgezogen werden. Warum soll’s denen besser gehen als uns?«

Das ursprünglich bürgerliche Ressentiment gegen die Faulheit schlug bei denen, gegen die es sich richtete, in das Hohelied des Schweißes und der harten Arbeit um, und noch der sozialistische Gegenentwurf hatte etwas von dem Ressentiment des Beschädigten, der gleiches Unrecht für alle fordert.

Quelle: Götz Eisenberg/Hinter den Schlagzeilen

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