Ich laufe die Straße entlang. 6,7 Kilometer. Will abnehmen. Will die Bikinifigur für den Sommer erreichen. Ich habe schon Seitenstiche. Laufe weiter ohne Pause. Will unbedingt Kalorien verbrennen. Ich bekomme kaum noch Luft. Weiterlaufen. Weiterlaufen. Nicht aufhören. Ich bin nicht zu stoppen.
53 Kilo. Viel zu viel.
Ich sitze im Restaurant mit Freunden. Bestelle nichts, außer ein Wasser. Will doch abnehmen. Kalorien? Nein, danke. Tausendvierhundert Kalorien waren es bis jetzt schon. Mehr? Nein, danke. Meine App sagt, es fehlen noch sechshundert Kalorien. Aber ich will doch abnehmen.
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Danke!
Mit knurrendem Magen liege ich im Bett. Mache mir im Kopf schon einmal einen Essensplan für die kommende Woche. Ich muss durchhalten. Will ja abnehmen. Werde die tägliche Ration an Kalorien jetzt reduzieren. Ich brauche gar nicht so viel. Habe auch ohne Essen genug Kraft.
50 Kilo. Viel zu viel.
Ich spüre die ersten Erfolge. Zwar an den falschen Stellen, aber egal. Hauptsache Gewichtsverlust. Meine Brüste sind kleiner geworden. Mehr erkenne ich jetzt noch nicht. Ich will weiter abnehmen. Wiege viel zu viel. Ich mache die nächsten Wochen so weiter wie bisher. Tausend Kalorien pro Tag, täglich joggen.
Der Sommer ist fast da. Doch ich habe noch keine Bikinifigur. Bin viel zu dick. Finde mich ekelig. Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich ein fettes, hässliches Monster. Ich muss noch ein paar Kilo schaffen, bis ich in den Urlaub fliege. Ich muss die Kalorien mehr reduzieren. Neunhundert pro Tag. Ich habe trotzdem noch genug Energie. Vielleicht finde ich mich ja dann schön. Bis ich das perfekte Gewicht erreicht habe, schlafe ich auf dem Boden, neben meinem Bett. Ich kann es mir nicht leisten, mit dem Gewicht im Bett zu schlafen. Ich habe das nicht verdient.
48 Kilo. Viel zu viel.
Es ist nachts. Ich liege in meinem Bett. Mein Magen knurrt. Habe heute kaum was gegessen. Plötzlich bekomme ich eine Fressattacke. Ich eile zum Kühlschrank. Wie ich es vermisst habe den Kühlschrank zu öffnen. Ich hole mir Butter und Wurst, schmiere mir fünf Scheiben Brot. Verschlinge sie. Wie ich das einfache, aber kalorienreiche Brot vermisst habe. Weiter geht es. Ich hole mir zwei Tafeln Schokolade. Esse sie sofort auf. Wie ich Schokolade vermisst habe. Ich finde noch Salzstangen. Wie ich sie vermisst habe.
Doch das alles hält nicht lange an. Ich laufe auf die Toilette. Übergebe mich. Mehrmals. Aber wieso? Ich hatte doch bloß ein wenig Hunger. Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass ich noch mehr abnehmen soll. Ich beschließe nie wieder nach Herzenslust zu Essen.
45 Kilo. Viel zu viel.
Der Urlaub ist vorbei. Meine Freundinnen sagen, ich sei zu dünn. Quatsch. Es gibt mir zwar ein gutes Gefühl, das zu hören. Ich habe etwas erreicht. Aber ich bin noch lange nicht perfekt. Will weiter abnehmen. Hat ja bis jetzt gut funktioniert.
Die Fressattacken wiederholen sich. Immer wieder und wieder. Ich versuche sie zu verhindern. Doch ich habe keine Kontrolle mehr. Kann nicht mehr steuern, ob ich mich übergebe oder nicht. Es passiert einfach.
Ich fange an mich zu hassen. Ekle mich vor mir selber. Weine, wenn ich in den Spiegel sehe. Freunde und Eltern machen sich sorgen. Finden mich zu dünn. Doch ich will weiter abnehmen. Bin ja zu dick in meinen Augen.
Ich kenne keine Tabus mehr. Hauptsache abnehmen. Hauptsache perfekt sein. Hauptsache Kalorien verbrennen.
Mein Leben dreht sich nur noch um die Zahl auf der Waage. Täglich sehe ich nach, ob sich etwas getan hat bei meinem Gewicht. Und siehe da. Ja, es hat sich etwas getan. Ich sehe Licht am Ende des Tunnels. Sehe, dass ich mich doch noch unter Kontrolle habe. Denn ich nehme ab. Wie ich es will.
40 Kilo. Viel zu viel.
Ich traue mich, wieder in meinem Bett zu schlafen. Doch die Matratze wirkt in den Nächten viel unbequemer als sonst. Manchmal habe ich morgens blaue Flecken. Ich mache mir Vorwürfe. Ich kann nicht mehr so oft mit Freunden etwas unternehmen. Bin zu schwach. Joggen kann ich auch nicht mehr so viel. Bin zu schwach. Seelisch halte ich auch nicht mehr viel aus. Bin zu schwach. Meine Weltansicht ändert sich. Denke viel nach über den Tod. Über das Leben. Ich komme schließlich zu dem Entschluss, dass Engel keinen Hunger haben. Vielleicht bin ich ja einer. Vielleicht gehöre ich ja nicht hier her. Vielleicht muss ich ja abnehmen, bis ich nicht mehr existiere.
Dieser Satz wird zu meiner Standardausrede: Engel haben keinen Hunger.
Mit diesem Satz kann ich meinen Gewichtsverlust akzeptieren.
Meine Eltern bringen mich in eine Spezialklinik für Magersucht. Ich soll zunehmen. Nein, ich will nicht. Will doch abnehmen. Ich bekomme einen Essensplan. Doch hier bin ich nicht glücklich. Nach vierzehn Wochen breche ich den Klinikaufenthalt ab. Ich habe nicht wirklich zugenommen. Ich verspreche meinen Eltern, mein Gewicht zu halten.
44 Kilo. Viel zu viel.
Es wird Herbst. Ich beginne dicke Pullis und weite Hosen zu tragen, um meine nicht vorhandenen Kurven zu verdecken. Mir ist es peinlich meinen Körper zu zeigen. Ich esse in der Schule auch nichts mehr. Mir ist es peinlich, vor anderen zu essen. Ich habe Angst vor Kommentaren, über mein Essverhalten oder über meinen dicken Körper.
Die Angst wächst. Ich kann nur noch alleine essen. Brauche sehr lang, um einen Apfel in mich hineinzuwürgen.
Ich nehme wieder ab. Doch niemandem fällt es auf. Wieso auch? Ich bin ja das Nichts.
39 Kilo. Viel zu viel.
Ich schwänze jede Sportstunde in der Schule. Habe Angst bewusstlos zu werden. Habe Angst mich in Sportkleidung zu zeigen. Habe Angst vor Kommentaren. Habe Angst davor, dass es jemand meinen Eltern steckt.
Ich werde schwächer und schwächer. Ich breche oft zusammen. Weinend. Oder einfach aus körperlicher Schwäche. Kann meine Emotionen oft nicht mehr steuern. Manchmal bin ich grundlos wütend, traurig und in der nächsten Sekunde wieder euphorisch. Ich versuche dann immer stark zu bleiben. Doch oft komme ich dann schon früher aus der Schule nach Hause. Halte es nicht mehr aus. Finde mich zu dick. Will ja abnehmen.
37 Kilo. Viel zu viel.
Ich verliere Freunde. Sage ihnen oft ab, wenn sie etwas vorhaben. Habe einfach keine Kraft mehr. Für alles. Irgendwann fragen sie einfach nicht mehr nach. Ich bin nur noch alleine in meinem Zimmer, mit weiten Klamotten, in die ich zweimal hineinpassen würde. Kleidergröße vierunddreißig.
Es ist Weihnachten. Ich tusche mir die Wimpern mit meiner neuen Mascara. Ich ziehe mir mein Kleid an, welches ich mir letzte Woche verkauft habe. Ich betrachte mich im Spiegel. Die Lücke zwischen meinen Beinen wird immer größer. Ich ziehe mein Kleid hoch und betrachte meinen Bauch. Alles was ich sehe sind meine Hüftknochen und meine Rippen. Überall Knochen. Meine Brüste sind nicht mehr wirklich vorhanden. Ich stopfe mir Socken in meine viel zu großen BH. Meine Familie und ich gehen zur Kirche. Bis jetzt durfte ich mir noch keinen Kommentar zu meinem Körper anhören. Doch das ändert sich jetzt. Meine beste Freundin steht auch vor der Kirche. Sie starrt auf meine storchartigen Beine. Dann sagt sie mir, dass ich ja schon ekelig dünn geworden sei und ob meine Eltern das denn sehen würden. Ich sagte ja und ging weg. Engel haben keinen Hunger.
35 Kilo. Viel zu viel.
Ich gehe wieder joggen. Egal, ob ich umkippe. Egal, ob mich viele schon zu dünn finden. Egal, was mit mir ist. Hauptsache, mein Gewicht stimmt. Ich setze mir das Ziel dreißig Kilo zu wiegen. Ich weiß nicht wieso. Vielleicht akzeptiere mich ja dann. Vielleicht wird dann ja alles gut. Vielleicht muss dann ja auch niemand mehr lügen, wenn er sagt, dass ich schön bin. Vielleicht bin ich dann ja einfach schön.
Ich sitze an meinem Tisch. Den kleinen Schminkspiegel vor mir. Ich zupfe mir die Augenbrauen. Ich streiche einmal über meine Braue. Ich habe einen kleinen Büschel in der Hand. Ich verstehe nicht, wieso.
Als ich am Abend nach dem Duschen durch meine Haare kämme, habe ich auch hier einen Büschel in der Hand. Eine kleine kahle Stelle an meinem Kopf ist zu erkennen. Egal, ich kann das noch verdecken.
34 Kilo. Viel zu viel.
Ich stehe jetzt dreimal täglich auf der Waage. Muss mein Gewicht kontrollieren. Muss abnehmen.
Ich habe wieder mehr Fressattacken. Übergebe mich jedes Mal danach. Gut so. Ich darf jetzt nicht kurz vor meinem Ziel aufgeben. Nicht jetzt. So knapp davor. Ich muss durchhalten.
Ich denke noch mehr nach als früher. Verstehe nicht, wieso ich so hässlich bin. Verstehe nicht, wieso das alles mir passiert. Verstehe die Welt nicht mehr. Schwimmen gehen, mit Freunden rausgehen, Sportunterricht, Restaurants und Kalorien sind für mich Tabuthemen geworden. Weine, wenn ich esse. Alleine. Zuhause. Lehne dankend Brote und Obst in der Schule ab und lasse meine Magen knurren. Egal, wie es mir geht, Hauptsache abnehmen.
33 Kilo. Viel zu viel.
Ich kann kaum noch gerade stehen. Bin seit Tagen in meinem Zimmer. Meine Eltern sehen mich kaum noch.
Ich habe meine Tage jetzt seit drei Monaten nicht mehr.
Ich brauche lange, um auf Fragen zu reagieren und um generell zu reden. Bin zu schwach. Brauche Nahrung. Doch ich kann ja nicht aufstehen. Ich robbe mich zum Kühlschrank und hole mir eine Banane. Mir ist kalt. Habe schon zwei Pullis übereinander an, doch ich habe trotzdem Gänsehaut. Ungeliebte Menschen frieren öfter.
Meine Zähne sind gelblich. Vom Übergeben.
Alles Egal. Ich lebe ja noch. Wenn auch nur körperlich.
32 Kilo. Viel zu viel.
Meine Eltern bringen mich ins Krankenhaus. Werde fixiert. Ich reiße mir nämlich immer wieder die Schläuche aus meiner Haut. Will nicht zunehmen. Will abnehmen. Ich liege den ganzen Tag nur da. Rede nicht. Weine nicht. Atme nur. Bekomme über eine Sonde Essen. Nach ein paar Tagen bin ich nicht mehr fixiert. Darf alleine auf die Toilette.
Doch die Sonden Nahrung bekommt mir nicht gut. Übergebe mich. Keiner bekommt es mit. Wieso auch? Bin ja das Nichts.
Ich habe kaum noch Haare auf den Kopf. Sehe grässlich aus. Will doch nur abnehmen. Will doch nur schön sein. Will doch nur glücklich sein.
Mein Körper kann keine Nahrung mehr verarbeiten. Nehme wieder ab. Die Ärzte versuchen alles. Doch es hilft nichts.
30 Kilo. Viel zu viel.
Mein Ziel ist erreicht. Doch ich liege auf der Intensivstation. Wieder fixiert. Wieder nur am Atmen. Habe keine Kraft mehr. Bin bereit ein Engel zu werden. Bin bereit loszulassen. Wie konnte es soweit kommen? Ich wollte doch nur die perfekte Bikinifigur. Wollte doch nur schön sein. Wollte doch nur abnehmen. Wollte doch nur perfekt sein.
Ich liege da. Sehe an meinem Körper herunter. Ich ekle mich. Was ist aus meinem Körper geworden? Was ist aus mir geworden?
Ich sehe nur Knochen. Kein bisschen fett. Nur Haut und Knochen.
Finde, dass ich mit 53 Kilo schöner aussah.
Finde, dass ich da schon meine Bikinifigur hatte.
Finde, dass ich wurde zunehmen sollte.
Doch vielleicht ist es dafür schon zu spät. Vielleicht muss ich bald gehen.
Am Abend putzt meine Mutter mir die Zähne. Kann mich ja nicht bewegen. Sie weint. Papa auch. Sie legt mir ein Kuscheltier von meiner Kindheit in die Arme und küsst mich auf die Stirn.
Meine Eltern gehen.
Ich schlafe ein.
„Engel haben keinen Hunger“, denke ich mir.
„In dieser Nacht schlief unsere Tochter für immer ein.“