Das Faktum, dass die ÖVP schon seit geraumer Zeit mit dem Problem stetig sinkender Unterstützung an der Wahlurne kämpft (auch das momentane Umfragehoch kann man eingedenk der Gesamtentwicklung getrost als Strohfeuer abtun), dürfte weithin bekannt sein und bedarf keiner weiteren Erörterung. Sehr wohl aber bedarf es einer kritischen Gegenposition zur Standardmeinung im momentanen Diskussionsprozess, der eine Neupositionierung der Volkspartei in die Wege leiten und in der Verabschiedung eines neuen Parteiprogrammes kulminieren soll. Die gängigste Position, wie sie politische Beobachter und Leitartikler seit Monaten unisono artikulieren, drängt auf eine breit angelegte "Modernisierung" der Partei- man müsse "bunter", "offener" und "liberaler" werden, um nur einige der populärsten Schlagwörter zu zitieren, die vermeintlich den Königsweg zur Erneuerung der "alten Tante ÖVP" pflastern. Weniger konservativ eben, um den Kerngehalt des Konvoluts von Kommentaren und Kolumnen zum Thema auf den Punkt zu bringen.
Bei der Parteiführung um den neuen ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner scheinen die Proponenten der Modernisierungslosung offene Türen einzurennen. Ob bei Gesamtschule, Frauenquote oder Homosexuellenrechte - überall signalisiert der schwarze Hoffnungsträger Bereitschaft, einen Schwenk zu vollziehen, um dem Maßstab der "Modernität" gerecht zu werden. Ob dies jedoch tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist, darf trotz des überwältigenden Konsenses, den der mediale Grundtenor vermittelt, bezweifelt werden, zumindest dann, wenn man über wahltaktische Erwägungen hinaus den Anspruch, eine konservative Partei sein zu wollen, nicht vollkommen über Bord werfen will, stellt dieser doch nach wie vor die Existenzberechtigung der ÖVP im österreichischen Parteienspektrum dar.
Die ÖVP und ihr Chef wären gut beraten, im Rausch der Umfragewerte nicht allzu willfährig in die Falle hineinzutorkeln, die ihre Gegner ihr mit dem Modernisierungsslogan mit einiger Perfidität gestellt haben. Die argumentative Prämisse, die sich hinter den Modernisierungsparolen, die nun von allen Seiten an sie herangetragen wird, versteckt, zielt nämlich darauf ab, latent vorhandene bürgerliche Selbstzweifel zusätzlich zu befeuern und eine ideologische Entkernung der ÖVP herbeizuführen, ähnlich, wie sie die deutsche CDU durchlaufen hat - wohlgemerkt mit einigem numerischem Erfolg, allerdings nur um den Preis der völligen weltanschaulichen Beliebigkeit. Indem man die Volkspartei beschwört, doch endlich im 21. Jahrhundert anzukommen, wird suggeriert, dass bürgerliche Positionen historisch bedingte Auslaufmodelle seien und die Geschichte zwangsläufig zur Erkenntnis führen müsse, dass ihre linken Gegenkonzepte letztendlich ohnehin obsiegen würden und eine Kapitulation daher unumgänglich sei.
Die ÖVP sollte nicht den Fehlern begehen, sich von den ideologischen Irrlichtern, die ihre politischen Gegner in Umlauf bringen, um ihr zu schaden, nicht blenden lassen. Es stimmt nicht, dass der Konservatismus sich im starren Festhalten an überkommenen Strukturen erschöpft, die nicht mehr zu den vermeintlichen Geboten der gesellschaftlichen Realitäten der sogenannten "Moderne" passen (dies wäre reiner Reaktionismus). Begreift man ihn im Sinne der bürgerlichen und klassich-liberalen Grundideen, mit denen er sich im Laufe der Geschichte verband, wie dem Vorrang des Individuums vor den Begehrlichkeiten des Kollektivs und der Emanzipation des Individuums gegenüber den regulativen Anmaßungen der staatlichen Autorität, zeigt sich, dass seine normative Quintessenz zeitloser Natur ist. Was es nunmehr braucht, ist eine wohlüberlegte Neuformulierung dieser Prinzipien im Leichte zeitgenössischer Problemstellungen. Mit ständig steigender Abgabenquote, die das sauer verdiente Steuergeld hart arbeitender Bürger in den nimmersatten Rachen des Raubritterstaates umleitet, einer neuen Tendenz zum staatlichen Gouvernantentum und der Rehabilitation der altlinken Idee einer öffentlich gelenkten Kommandowirtschaft fänden sich hierzu einige aufgelegte Elfer, mit denen sich die ÖVP prächtig profilieren könnte, würde sie sich nur ihrer Wurzeln besinnen.
Um sich erfolgreich zu reformieren, muss die ÖVP also keineswegs die bedingungslose Kapitulation vor Rot-Grün einreichen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum eine bürgerliche Partei den Wettstreit der Ideen einseitig beenden soll, indem sie dem Gegner seine Hauptschauplätze kampflos in Besitz nehmen lässt. Stattdessen muss sie sich daran machen, mit der gebührlichen Verve die zentrale Idee bürgerlichen Denkens, namentlich das Primat des Individuums, mit bezug auf aktuelle Problemstellungen neu zu verfechten: die Gymnasien mit einer tristen Einheitsschule zu ersetzen, die als höchsten Wert nicht Leistung, sondern Egalität kennt, ist kein unleugbares Gebot der "Moderne", sondern ein von den Linken betriebenes Projekt, eines der letzten Bollwerke des Bürgertums auszumerzen, um in der Folge die staatliche Oberhoheit über die Erziehung Heranwachsender durch die Dualität von Gesamt- und Ganztagsschule zu zementieren. Frauenquoten sind mitnichten eine notwendige Maßnahe zur Vollendung der Emanzipationsbewegung, sondern ein schamloser Eingriff in die Vertragsfreiheit, die eine tragende Säule der Individualautonomie darstellt. Was den richtigen Umfang mit den Anliegen homosexueller Bürger angeht, so muss die ÖVP deren Recht auf Selbstbestimmung achten lernen und kann sich dem Abbau staatlicher Restriktionen auf deren Lebensführung verschreiben, ohne ihre Prinzipien zu verraten. Gleichzeitig muss sie aber auf der Hut sein, dabei nicht im Gleichklang mit der Linken zu argumentieren, die unter Homosexuellenrechten auch die Verpflichtung Privater versteht, im Erwerbsleben und Vertragswesen, etwa bei der Vermietung von Wohnungen, Antidiskriminierungsmaßnahmen zu befolgen, die auf moralische und religiöse Vorbehalte, aber auch das Recht auf assoziative Freiheit, keine Rücksicht nehmen. Letztendlich muss es in allen Belangen darum gehen, dass die ÖVP sich ihrer ideologischen Mission wieder gewahr wird und ohne falsche Scham ihre Prinzipien verficht, so wie es die Linken mit ihren Überzeugungen selbstverständlich handhaben und wie es die radikale Rechte ebenso unverhohlen betreibt. Will das bürgerliche Lager zwischen diesen beiden Polen nicht restlos zerrieben werden, muss es sein Selbstbewusstsein zurückgewinnen.