Philosophen, die schon seit langer, langer Zeit die Welt betrachten, sagen über die Wahrheit, dass 90% der von uns reflektierten Realität Geschichten sind. Auch und gerade im heutigen medialen Zeitalter.
Es geht nie wirklich um Wahrheit oder Fakten, sondern um unsere Wahrnehmung hiervorn. Und dabei rede ich nicht nur von Politik. Unsere gesamte Erinnnerung an das, was wir glauben, gesehen und erlebt zu haben, beruht auf Geschichten, die wir später daraus machen. Wie lange wir für dieses SPÄTER brauchen, hängt vom Sachverhalt ab. Oftmals geht es sehr, sehr schnell, dass Dinge in eine anders gefärbte Realität gewandelt werden.
Dem Heile-Welt-Posting auf Facebook sieht keiner den Streit mit der Ehefrau und die frechen Antworten der Kinder kurz zuvor an. Da lächeln alle nur vor Meer und Strand. Und auch wir werden nur sehr kurze Zeit später mit dem Brustton der Überzeugung berichten, wie toll doch dieser Urlaub wieder war.
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Anthropologen behaupten, ein wesentlicher Teil der Menschwerdung beruht auf der Fähigkeit, sich mittels Sprache und Vorstellungsvermögen in Dinge hinein zu versetzen, die weder greifbar, noch da sind. So konnte es zu Religiosität kommen, aber auch zu Mitgefühl und dem Glaube an die Wirkmacht des Geldes.
Keiner hat Gott je gesehen und kaum einer kennt die Menschen, deren Abbilder auf dem Geld sind. Dennoch glauben wir an beides. Genauso wie an moralische Werte (die sich angesichts der sonstigen Menschheitsentwicklung erstaunlich wenig geändert haben) und Rechtsprechung. All das entspricht einem Werteverständnis, das man in Ansätzen bereits in Tierversuchen (Primaten, Elefanten) festgestellt hat.
So mag es nicht verwundern, dass uns aus allerlei religiösen Schriften bekannte Formen der Bestrafung (Auge um Auge) auf den Codex Hammurapi (2.Jts.v.Chr.) und noch ältere Herrscher zurückgehen.
Es scheint, als hätten Menschen schon immer Geschichten (hier: Bestrafungen) gebraucht, die sie sich vorstellen können.
Und tatsächlich ist ein, wie es heute mehrheitlich üblich ist, Gefängnisaufenthalt sehr viel abstarkter als diese uns heute martialisch erscheinenden Formen der Bestrafung unrechtmäßigen Handelns. Denn selbst in der heutigen globalisierten Zeit ist es ein Unterschied, ob ich in einem türkischen, us-amerikanischen oder deutschen Gefängnis meine Strafe "absitze".
Gleichwohl greifen Geschichten in all unsere Lebensbereiche, beeinflussen unser Handeln überall.
Jeder in Europa ist davon überzeugt, dass Olivenöl das gesündeste überhaupt ist, auch wenn Fachleute wissen, dass das einheimische Raps- und Sonnenblumenöl nicht minder wertvoll ist. Kaum einer ist sich dessen bewusst, dass eine Werbekampagne jenseits der Mitte des letzten Jahrhunderts diese Legende schürte, um die Umsätze der südlichen Agrarnationen der EU anzuschieben.
Und es ist kein Zufall, dass gerade nachts um drei die Fernsehsender Sexhotlines, Kinderschutzvereine, Tierschutzorganisationen oder Dauerwerbesendungen mit äußerst überteuertem Schmuck in die Werbung schicken. Um diese Zeit sitzen mehrheitlich einsame, schlaflose Menschen vor der Glotze, die sich auf die eine oder andere Weise gut fühlen (und vielleicht auch endlich schlafen) wollen.
Auch für die Krankheit ALS hätte sich kaum jemand außer den Betroffenen interessiert, wäre da nicht die Ice Bucket Challenge gewesen. (Wahrscheinlich weiß noch heute kaum jemand, was ALS ist, aber jedenfalls war es eine Supersache, den Leuten zuzuschauen, wie sie sich das Eiswasser übergossen. Und die Häme angesichts der Reaktionen wurde von dem guten Gefühl überdeckt, dass man diesen Blödsinn für eine gute Sache tat.)
Tatsächlich ist der Mensch über seine ganze Entwicklung hinweg auf gute Geschichten angewiesen, die ihn so oder so antreiben. Auf deren Richtigkeit kommt es nicht an, sondern auf das, was die Geschichten ins uns bewirken. Besten- und schlimmstenfalls, welche Handlungen sie auslösen. Wahrheiten und Fakten sprechen uns beileibe nicht in der gleichen Weise an, auch wenn wir uns noch so sehr einbilden, das einzige Tier mit der Fähigkeit zum abstrakten Denken zu sein. Tatsächlich KÖNNEN wir abstrakt denken. Andernfalls gäbe es weder Kernkraftwerke, noch In-vitro-Fertilisation. Aber der Antrieb, Dinge zu tun oder zu unterlassen, hat eine stark emotionale Komponente.
So und nur so erkläre ich mir die oft weniger rationalen als emotionalen Reaktionen bei Diskussionen gerade und auch im Netz. Denn wenn es Geschichten sind, an die wir glauben(!) oder nicht, dann bekommt jede Diskussion einen quasi-religiösen Charakter.
Und schon meine Mutter sagte: Über Religion lässt sich nicht streiten.