Ich sah einen weinenden Mann, vor ungefähr einem Jahr. Er schämte sich seiner Tränen unter den Augen einer Fremden nicht. Zu sehr beschäftigte ihn diese Sache. Während er die Brille hob, um seine Tränen wegzuwischen, erzählte er mir, es seien Menschen ertrunken, beinahe tausend, im Mittelmeer. Beim Versuch, Europa zu erreichen.

(foto: dpa)

Ich weinte nicht, sondern dachte, wie merkwürdig es doch ist: Es scheint wirklich nur das real, was in den Medien vorkommt. Diese Menschen gibt es schon seit Jahren. Und immer mal wieder ertrinken auch welche. Gar nicht zu reden davon, dass sie auf tausend andere Arten sterben. Ist es nicht wahr, wenn es nicht medial aufbereitet ist?

Den ganzen Sommer über sahen wir Flüchtlinge im Fernsehen. Ganz plötzlich. Wie Kai aus der Kiste waren sie in unser Bewusstsein getreten. Und auch ich konnte mich diesen Bildern nicht entziehen.

Irgendwann sagte Frau Merkel diesem palästinensischen Mädchen "Wir können nicht alle nehmen."

Wieder flossen Tränen. Diesmal bei dem Mädchen.

Und ich dachte: In deiner Haut, liebe Angela, möchte ich jetzt nicht stecken. Du KANNST es nur falsch machen. Auch, wenn es stimmt. Wir können nicht alle nehmen. Behalten wir nur die, die schon da sind und offenbar integrationswillig? Wie sagen wir den anderen, dass sie nicht hierher passen? Und wer wählt jene aus, die es versuchen dürfen? Es könnte ja gelingen.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Frau Merkel lud ein. Irgendwie atmeten wir alle auf. Endlich hatte mal jemand die Sache in die Hand genommen. Im Hinterhirn vielleicht nicht ganz glücklich ob all der ungeklärten Fragen. Aber sehr stolz auf unsere Kanzlerin, die der Meinung war, "Wir schaffen das."

Die einen fuhren direkt hin mit vollen Autos und halfen dann vor Ort. Die anderen brachten Ihre Soldaten in Stellung und bauten neue Grenzzäune. Wieder andere standen mit Blumensträußen an Bahnhöfen und schleppten bei, was so ein Mensch ohne alles wohl brauchen kann.

Zwischendurch sahen wir ein ertrunkenes Kind am Strand und dachten: Es ist richtig, was wir tun. Solche Bilder soll es nie mehr geben.

(foto: aylan kurdi)

(Und doch: Ich, Mutter zweier Kinder, die selbst einmal vor dieser Frage gestanden hatte, sah es auch kritisch. Nie, niemals hätte ich eines meiner Kinder dieser Lebensgefahr ausgesetzt. Als vor 27 Jahren in meiner Familie diese Frage anstand, blieb ich mit dem Kleinen da. Nur die Großen sind gegangen. Es hätte Jahre dauern können, dass wir uns wiedersehen. Aber ... nein. Schuld am Tod des eigenen Kindes zu sein. Wer kann das wollen?)

Die Zeit ging ins Land und man begann sich zu fragen, wer denn bloß dieser ominöse WIR ist. Politisch bewegte sich wenig bis nichts. Mühsam nur wurden Aufnahmelager aus dem Boden gestampft. Beinahe gar nicht kam ein Registrierungsprozess in Gang. Im Herbst hörte ich aus dem Aufnahmelager im Nachbarort, es würden Reinigungskräfte gesucht. Die Toiletten seien laufend verstopft. Und wenn der Sanitärfachmann die Rohre gereinigte habe, kämen da Pässe die Menge zutage, die versenkt worden waren.

"Ein Pass", sagte ich, "ist doch das Wichtigste, was man braucht, um Asyl zu beantragen."

" Ja gut," wurde ich belächelt, "aber nur dann, wenn es der richtige ist."

Tatsächlich hörte man zunehmend von Menschen, die nicht eingeladen und doch da waren.

Wir hörten von Flüchtlingen, die die Gärten ihrer Gastgeber abernteten.

Wir hörten vom falschen Verständnis des Minirocks.

Wir hörten, stark verzögert, von Köln und anderen Städten in der Silvesternacht.

Wir hörten ...

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Neulich erzählte mir meine Tochter, wie damals, während der Ausbildung, eine ihrer WG-Partys gecrasht worden war. Irgendwer hatte über einen Radiosender eingeladen. Die Sache war nicht zu bremsen gewesen.

Hernach war die WG eine einzige Müllhalde, viele Möbel kaputt und allerhand Sachen fehlten.

Es hat schon seinen guten Grund, wenn ich zu Partys nur Leute einlade, die ich kenne und bei mir haben will. Andere, die mich nicht kennen, mich vielleicht nicht einmal mögen, könnten sich ermutigt fühlen, sich bei mir so aufzuführen wie sie es zu Hause oder bei Freunden nie täten. Ebensogut könnte ich gleich ein Schild vors Haus stellen, die Tür offen lassen und weg gehen.

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Bin wirklich ich es, die all das denkt? Sehr viel länger als manch anderer war ich mir über dieses Flüchtlingselend im Klaren. Und als etwas geschah, dachte ich: Es wurde Zeit, die Verantwortung in der Welt zu übernehmen, die wir ohnehin schon tragen.

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