10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernte

Ich kann mich noch gut erinnern, als Sonja Schiff den ersten Beitrag auf fischundfleisch setzte. Sie erzählte von ihren Erfahrungen als Altenpflegerin und wie sehr sie ihren Job liebt. Das sorgte von Anfang an für Polarisierung. Die Einen fanden es spannend, dass sie einen neuen Blick auf die Thematik werfen konnten. Die Anderen wollten nicht glauben, warum Altenpflege richtiggehende „Glücksgefühle“ hervorrufen kann. Ich gehörte und gehöre ungebrochen zu den Einen.

Dementsprechend war ich gespannt auf das Sachbuch. Und nunmehr kann ich verkünden, dass ich „10 Dinge, die ich von alten Menschen lernte“ zu den wichtigsten Sachbüchern zähle, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Die Qualität des Werkes fußt auf mehreren Pfeilern, die ich kurz skizzieren möchte.

1. Pfeiler: Die autobiographische Dimension

Sonja Schiff gibt – auch – Einblick in ihr Leben, und wie es dazu kam, dass sie es als Berufung versteht, für und mit alten Menschen zu arbeiten. Ihr Lebensweg war und ist nicht geradlinig, es gibt Brüche und Wellen. Doch ihren Ausführungen ist zu entnehmen, wie froh sie darüber ist, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie war und ist gerne Altenpflegerin, beschäftigt sich mit den alten Menschen weit über die pflegerischen Tätigkeiten hinaus. Und da folgt auch schon der

2. Pfeiler: Altenpflege, die weit über die Pflege hinausgeht

Wenn Altenpflege ausschließlich auf pflegerische Tätigkeiten beschränkt ist, verliert sie die menschliche Komponente. Altenpfleger haben mit Menschen zu tun. Und wer den Beruf der Altenpflegerin ausübt, muss sich dessen bewusst sein, dass es auch um die psychische und soziale Auseinandersetzung mit alten Menschen geht. Sonja Schiff zeigt auf, wie Altenpflege verstanden werden muss. Die groben Schwächen des Systems, wo es nur um Effizienz und finanzielle Aufrechnung geht, wirkt bis in den Sozial- und Gesundheitsbereich und somit auch in die Altenpflege hinein. Doch weshalb den Fokus einzig und allein auf die Pflege und die notwendigen Handgriffe beschränken? Menschenwürdige Behandlung von alten Menschen ist eine Verpflichtung. Sonja Schiff lebte und lebt dies vor.

3. Pfeiler: Lernen von alten Menschen

Das Schwergewicht des Buches bildet zehn Erkenntnisse, welche die Autorin gezogen hat. Es sind Leitsätze geworden, die für sie Teil des Lebens sind. Alte Menschen können Lehrmeister sein, wenn ihnen Gehör geschenkt, ihnen Aufmerksamkeit gewidmet wird. Sonja Schiff hat unzählige Begegnungen mit alten Menschen gehabt, die ihre Sichtweise auf das Leben schließlich verändert haben. Die Perspektive hat sich geschärft, die Scheuklappen sind abgeworfen.

4. Pfeiler: Jeder Leser findet etwas Besonderes

Ich bin mir sicher, dass jeder Leser des Buches eine andere Stelle im Buch hat, die ihm besonders viel bedeutet. Es ist ein Buch zum wieder lesen. Manche Kapitel haben mich emotional sehr berührt. Hervorheben möchte ich „Die Seele hat kein Alter“ und „Mit sich selbst Frieden zu schließen macht frei“. Peter Ustinov hat kurz nach seinem 80. Geburtstag verkündet, dass er sich innerlich immer noch wie ein Kind fühle. Tatsächlich mag der Körper abbauen, Vieles wird beschwerlicher. Doch das Lebensgefühl ist davon nicht betroffen. Ich für meinen Teil fühle mich deutlich jünger als ich bin. Ja, ich gebe zu, ein kindliches Gemüt zu haben. Ich bin neugierig, wissbegierig, möchte ständig dazu lernen. Alte Menschen, die das Kind in sich bewahrt haben, sind nicht wirklich alt. Alt ist nur der Körper, nie aber die Seele. Davon ist die Autorin und davon bin ich überzeugt.

Es gibt Menschen, die ihr Lebtag keinen Frieden mit sich schließen. Sie wollen immer wer anderer sein, als sie sind. Sie wollen etwas werden. Sich bewusst zu machen, dass wir wer sind, und zwar immer, jetzt und in jedem folgenden Augenblick, ist für nicht wenige Zeitgenossen nicht vorstellbar. Wer aber immer nur dem falschen Hasen hinterher läuft, der ja bekanntermaßen nie erwischt werden kann, versäumt sein Leben. Frei zu werden ist ein lebenslanger Prozess. Niemand ist davor gefeit, doch zu glauben, dass dieses und jenes fehlt, damit Selbstakzeptanz möglich wird. Dabei verwandeln wir uns ohnehin ständig. Wir werfen die eine Schale ab und legen uns eine neue an. Das ist Leben. Was wir heute werden wollen, kann uns morgen schon unbedeutend sein. Mit sich selbst Frieden zu schließen heißt wohl auch, zu akzeptieren, dass wir uns selbst nie in den hintersten Winkel unserer Seele beleuchten können. Das ist vergebene Liebesmüh und bringt nichts.

5. Pfeiler: Leben und Sterben

In diesem Buch ist viel vom Sterben und vom Tod die Rede. Dies ist eine Thematik, die von der Gesellschaft tabuisiert wird. Somit ist es wichtig, hierfür eine Lanze zu brechen. Es gibt sogar „lustiges Sterben“, wie am Ende des Buches erzählt wird. Natürlich gibt es auch schreckliches Sterben, doch das hängt weniger vom Sterbenden, sondern hauptsächlich von jenen Menschen ab, die den herannahenden Tod des Sterbenden nicht wahrhaben wollen. Sonja Schiff möchte bewusst sterben. Niemand kann sich aussuchen, wie, wann und unter welchen Umständen er stirbt. Leben und Sterben gehören zusammen, sie sind zwei Seiten der selben Medaille. Alte Menschen sehnen oft den Tod herbei, wissen letztlich, wann es Zeit ist zu gehen. Diese Passagen sind besonders berührend.

6. und letzter Pfeiler: Wie ist es um die Zukunft der Altenpflege bestellt?

Sozusagen als Anhang des Buches richtet die Autorin Briefe an die Altenpflege und die Altenpflege-Politiker. Ersterer soll den Kolleginnen Mut machen. Zweiterer verantwortliche Politiker wach rütteln, und erkennen lassen, wie wichtig es ist, den Stellenwert der Altenpflege anzuerkennen und bessere Rahmenbedingungen sowohl für das Pflegepersonal als auch die alten Menschen zu schaffen. Denn eines steht fest: Menschen, die sich der Altenpflege verschrieben haben, sind physisch und psychisch extrem gefordert. Sie arbeiten viele zusätzliche Stunden ohne Bezahlung, schließlich gilt es, alte Menschen und deren Angehörige gerade dann zu unterstützen, wenn der Sterbeprozess stattfindet oder der Tod Erlösung gebracht hat. Und unbezahlte Überstunden in Form von zusätzlicher sozialer Zuwendung sind üblich. Wer in der Altenpflege tätig ist, und diesen Job bloß als Aneinanderreihung von Aufgaben versteht, die vorgegeben sind, ist fehl am Platz. Altenpflege ist Berufung und es ist an der Zeit, dass sie entsprechend gewürdigt wird. Im Sinne von besserer Bezahlung, flexibleren Arbeitszeiten, die auf persönliche Bedürfnisse Rücksicht nehmen, menschenwürdige Rahmenbedingungen also, von denen insbesondere die alten Menschen profitieren. Denn sie sind es, um die es geht. Sie brauchen viel mehr Zuwendung und soziale Begleitung, als ihnen gemeinhin zugestanden wird.

Ein letzter Punkt noch, der mir wichtig ist: Ich habe vor wenigen Jahren eine Ausbildung zum Seniorenanimateur abgeschlossen, meine Schwerpunkte waren Biographiearbeit und Seniorentheater. Meine aufwändigen Versuche, hauptamtlich in diesem Kontext alte Menschen zu aktivieren, zu erfreuen, mit ihnen eine schöne, lebendige Zeit zu verbringen, sind bislang gescheitert. Und zwar daran, dass es hierfür offenbar kein Budget gibt. Dieses „fehlende“ Budget ist es, woran ersichtlich ist, wie „wichtig“ den zuständigen Politikern oder überhaupt der nur auf Jugend und Erfolg getrimmten Gesellschaft es sein mag, für alte Menschen über die Pflege hinaus gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen. Nichts anderes ist Biographiearbeit, Seniorentheater, über das „übliche Maß“ hinaus gehende Gespräche, überhaupt soziale Begleitung und Zuwendung. Jeder alte Mensch hat ein Recht auf Pflege UND jeder alte Mensch hat ein Recht auf soziale Begleitung und Zuwendung. Der demographische Wandel ist längst eingeläutet. Die Blauäugigkeit oder besser noch die Ignoranz der zuständigen Politiker ist erstaunlich. Auch alte Menschen haben mal etwas geleistet, oft mehr als wir Jüngeren uns vorstellen können. Alte Menschen dann einfach auf ein Abstellgleis zu stellen und nicht auf deren Bedürfnisse zu reagieren ist im Grunde ein Skandal.

Sonja Schiff ist hierfür zu danken, dass sie uns Leser Anteil nehmen lässt an einer Reise, die uns mit alten Menschen und deren Lebensweisheiten in Verbindung bringt. Möge dieses Buch viele Leser finden.

4
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Bluesanne

Bluesanne bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:16

Claudia Braunstein

Claudia Braunstein bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:16

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:16

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:16

3 Kommentare

Mehr von Jürgen Heimlich