Der Friedhofsgänger macht eine Erfahrung der anderen Art

Ein Freund und ich beschlossen, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Er wusste von meinem Faible für Friedhöfe und hat mich seiner Cousine vorgestellt, die eine ungewöhnliche Geschichte zu erzählen hatte. Doch das war nur der Anfang. Ich nahm diese Geschichte nämlich zum Anlass, wiederum eine neue Geschichte zu erfinden, die auf einem Friedhof spielt.

Ich schrieb davon, wie eine alte Frau nicht mehr auf herkömmliche Weise aus einem Friedhof herauskommt. Sie muss sich also einen anderen Ausgang suchen, und findet nach einigen Stunden ein Mäuerchen, das niedrig genug ist, um es unter Zuhilfenahme eines „zufällig“ herumstehenden Einkaufswagens zu erklimmen. Sie sitzt dann auf dem Mäuerchen, hat aber Angst, in die Freiheit herunterzuspringen. Sie ist nicht mehr die Jüngste und könnte sich verletzen. Sie fasst den Entschluss, eine Opernarie zu schmettern. Damit möchte sie einen Kavalier anlocken, der sie schließlich auffangen wird, wenn sie von der Mauer springt. Und tatsächlich findet sie Gehör und alles endet so, wie sie es sich gewünscht hatte.

Die Szene war so lebendig! Eine alte Frau, die auf einer Friedhofsmauer sitzend eine Opernarie schmettert! Einen Tag, nachdem ich die Geschichte aufgeschrieben hatte, besuchte ich die evangelische Abteilung des Zentralfriedhofs. Dort war ich zuvor schon dutzende Male gewesen. Ich ging also meines Weges, da bemerkte ich plötzlich rechts in einem Seitenweg einen älteren Mann. Er schaute in meine Richtung, setzte sich dann in Bewegung. Wenig später ging er direkt vor mir, keine 10 Meter entfernt. Und... er begann eine Opernarie zu schmettern! Zunächst begriff ich nicht. Was sollte das? Auf einem Friedhof? Da erinnerte ich mich an meine Geschichte. Nie zuvor hatte ich eine Szene geschrieben, in der ein Mensch auf dem Friedhof eine Opernarie schmettert. Und nie zuvor hatte ich einen Menschen ohne Publikum (außer mir!!!) auf einem Friedhof eine Opernarie schmettern hören.

Ich überholte den Mann, der weiter seine Arie schmetterte. Das dauerte mehrere Minuten, bis er irgendwann verschwand. Es war wie ein Zauber, den ich erlebt hatte. Eine Szene einer Geschichte, die ich geschrieben hatte, war wenig später in Erfüllung gegangen. Ja, der Mann konnte doch nur auf mich gewartet haben! Schließlich hat er erst zu singen begonnen, als ich in seiner Hörweite war. Das war eine Begegnung, die ich nie vergessen werde, und die mir bewusst machte, dass übernatürliche Kräfte am Werk sind. Es lässt sich nicht alles rational erklären. Ein ungewöhnlicher Gedanke von mir erreichte einen anderen Menschen, der ihn lebendig gemacht hat. Davon bin ich überzeugt.

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fischundfleisch

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Kristallfrau

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