Zwangsneurosen sind keine Seltenheit. Jeder Mensch kann einen „Tic“ aufweisen, der ihn in den Augen anderer „komisch“ aussehen lässt. Sebastian ist ein Zwangsneurotiker, der sein Leben gut im Griff hat, und von den Neurosen zwar in gewisser Weise beeinträchtigt ist; allerdings nur in einem begrenzten Rahmen. Es gibt immer wieder Zeiten, in denen diese „Störungen“ stärker, und welche, in denen sie schwächer ausgeprägt sind.

Es existieren Selbsthilfegruppen, denen er sich nie anschließen wollte. Natürlich hat er sich genauestens erkundigt; aber er traf die Entscheidung, keine regelmäßigen Sitzungen mit anderen betroffenen Menschen zu besuchen. Der Grund für ihn lag auf der Hand: Sebastian ist davon überzeugt, dass er durch die Therapie gelernt hat, mit seinen Zwängen besser umzugehen. Er weiß, dass er sie nie eliminieren wird können. Das ist auch gar nicht möglich, da psychische Eigenheiten immer von einer Vergangenheit determiniert sind, die niemand so einfach abschütteln kann. Er ist ein Betroffener, der offen über seine Zwangsneurosen spricht, wenn es angebracht ist.

Seine zwangsneurotische Persönlichkeit wurde bereits in seiner Kindheit geprägt. Als er daheim nach seinen Büchern und sonstigen Schulsachen oft mehrmals innerhalb einer Stunde Ausschau hielt, kam dies seiner Mutter keineswegs absurd vor. Der Grund liegt darin, dass sie selbst stärkere Zwangsneurosen ausgebildet hat. Über dieses Thema können Mutter und Sohn nicht miteinander sprechen. Er hat es schon öfters versucht, wurde aber stets abgeblockt. Für sie ist es „normal“, Dinge zu kontrollieren, ständig skeptisch zu sein, störende Kleinigkeiten immer wieder zu korrigieren. Sie käme nie auf die Idee, eine zwangsneurotische Persönlichkeit zu sein. Aufgrund dessen will sie auch nichts davon hören, wenn Sebastian sie darauf anzusprechen versucht. Dabei hat er die Zwangsneurosen ja „geerbt“.

Es hört sich verrückt an, aber Sebastian hat diese Zwänge, und die vielen Eigenheiten, welche sich dadurch ausbildeten, lange Zeit als „normal“ angesehen. Erst im Alter von 14 oder 15 Jahren ging er zu sich selbst, und zu anderen Menschen auf Konfrontationskurs. Er erkannte, dass diese Mechanismen, die ihn beherrschen, nicht zu ihm selbst gehören, und doch ein Teil von ihm sind.

Damit fängt wohl jeder Erkenntnisprozeß einer zwangsneurotischen Persönlichkeit an: Zu sehen, dass irgendetwas nicht stimmt.

Zwänge als „normal“ einzustufen verhindert jegliche Chance, ihre beherrschende Kraft abmildern zu suchen. Wenn sie als etwas Selbstverständliches genommen werden, das nicht zu umfragen ist, wird stets eine unglaubliche Unsicherheit und Beklemmtheit die Seele des Betroffenen durchdringen. Verhaltenstherapeuten, Psychotherapeuten oder Logotherapeuten können dabei unterstützen, das Leben der Betroffenen in Bezug auf die zwangsneurotischen Komponente zu beleuchten, und den Menschen dabei helfen, sich selbst besser verstehen zu können.

„Normal“ können Zwänge nie sein. Es kann, ja muß allerdings „normal“ sein, sich ihnen zu stellen, und zu versuchen, mit ihnen konstruktiv umzugehen.

Manche Zwangsneurotiker brauchen Selbsthilfegruppen, und neben therapeutischer Behandlung spezifische Medikamente. Es gibt Menschen, die überhaupt nicht aus dem Haus kommen, weil sie schon morgens von einer Unzahl an Zwängen dominiert werden. Das Duschen kann mehrere Stunden dauern, und die Kontrolle der Wohnung vor dem Weggehen ebenso lange, weil immer wieder das Gefühl wachgerufen wird, es könnte irgendetwas vergessen worden sein.

Wichtig für alle Menschen, die an Zwängen mehr oder weniger stark leiden, ist es, diese Tatsache nicht bewusst in ein normatives Prinzip in Bezug auf die eigene Persönlichkeit zu verwandeln. Sebastian war durch die plötzlich auftretende Atemkontrolle bewusst geworden, dass seine Persönlichkeit sich den Zwängen nicht völlig entziehen konnte. Tatsächlich lassen sich Zwänge nicht „austreiben“; dennoch besteht die Möglichkeit, sie nicht zum „Beherrscher des Lebens“ werden zu lassen. Und niemand sollte sich dafür schämen, zwangsneurotische Störungen aufzuweisen.

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