Sebastian im Reich der Zwänge, Teil 12 (letzter Teil!)

Sebastian lebt in einem besonders ausgeklügelten Reich. Er macht sich immer wieder über unglaubliche Dinge Gedanken, die er meist nicht weiter erzählt. Alle paar Minuten kann es passieren, dass irgendein Zwang auftritt. Irgendetwas kann ihm auffallen. Das können Dinge sein, oder Menschen, oder Geschehnisse, die er zu analysieren trachtet.

Er kann minutenlang das Gefühl haben, einen Menschen anschauen zu müssen, und tut dies auch. Er kann sich an einem Spinnennetz stören, dass in einer Straßenbahn einige Meter von ihm entfernt hängt. Er kann das Gespräch zweier Menschen als störend empfinden, weil sie lachen oder weinen. Er kann einen Autounfall als Störung seiner inneren Ruhe empfinden. Er kann ein Gespräch mit einem Menschen als lästig betrachten, weil dieser Mensch die „falschen“ Schuhe an hat.

Er kann stundenlang nur mit sich selbst beschäftigt sein, und den unmöglichen Versuch machen, sich selbst verstehen zu wollen. Er kann sich schrecklichen Fantasien hingeben.

Er kann sich überhaupt vorstellen, dass Dinge passieren, die sein Leben völlig aus dem Gleis bringen.

Er kann das leise Schnarchen eines Babies als persönliche Beleidigung auffassen, und sich wünschen, dass die Mutter das Baby endlich aufweckt, und ihm sagt, dass es nicht so laut schnarchen soll. Er kann sich zweihundert Mal dessen versichern, eine Krawatte richtig gebunden zu haben. Er kann bei einem Spaziergang Menschen treffen, die ihm bekannt sind, und sie bewußt nicht grüßen; selbst wenn sie ihm nicht unsympathisch sind.

„Das Reich der Zwänge“ existiert, und ist ein Teil von ihm. Es lässt sich von ihm nicht trennen. Er hat gelernt, mit diesem Reich gut umgehen zu können. Er weiß, dass vieles in seinem Leben einen komischen Eindruck hinterlassen kann, und andere Menschen manchmal entsetzt sein mögen. Doch das ändert nichts daran, dass er sich selbst annimmt, und liebt, und auch anderen Menschen gegenüber offen sein kann. Gewisse soziale Defizite hat er nach wie vor. Er wird nie leicht und problemlos Freundschaften schließen können, und es wird nie eine Selbstverständlichkeit für ihn sein, diese oder jene Entscheidung zu treffen.

Er hat es sich in seinem „Reich der Zwänge“ bequem eingerichtet, und kann kaum noch überrascht werden. Wenn ein ungebetener Besucher an seine Tür klopft, steht er auf, und kontrolliert die Zeit auf seiner Armbanduhr mehrmals innerhalb einer Minute. Das ist so, weil er so ist, wie er ist. Und er hat gelernt, diese Eigenheiten mit Humor zu nehmen. Humor ist ein wesentlicher Aspekt des Lebens, und gerade der Zwangsneurotiker darf sich nicht in sich selbst verbarrikadieren, sondern muß über sich selbst lachen können.

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Herbert Erregger

Herbert Erregger bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:06

Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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Bernhard Juranek

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Bluesanne

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