An seiner Namenlosigkeit hat sich nichts geändert. Im Alter von neun Jahren ist Sebastian mit Eifer dabei, diesen Zustand bei zu behalten. Seine Eltern wundern sich überhaupt nicht, dass er sie nur sehr selten mit „Mama“ und „Papa“ anspricht. Sie rufen ihn meist „Basti“, und da wird er irgendwann schon angetrabt kommen...

Dafür entwickelt er still und heimlich seinen ersten starken Zwang, ohne freilich zu wissen, warum das so sein mochte. Wenn er abends vor dem Fernseher sitzt, der Vater schnarcht, und die Mutter ständig auf die Uhr schaut, um ihn um 21 Uhr zu erinnern, dass er nun schlafen gehen müsse, macht er sich Sorgen. Es geht um seine Schulsachen, die in der immer gleichen Ordnung in seiner Schultasche stecken. Sebastian ist unruhig. Er kann dem Film im Fernsehen überhaupt nicht folgen, und macht sich dann auf die Socken. Die Schultasche steht da, wo sie vor ein paar Minuten schon gestanden ist. Das ist gut so, und könnte ihn beruhigen. Aber es ist zu wenig. Er schaut in die Schultasche hinein, und kontrolliert, ob alle Hefte, Bücher, Bleistifte, die Füllfeder, die Zeichenstifte usw. da sind. Das tut er akribisch. Vorsichtshalber schaut er gleich nach der ersten Kontrolle noch einmal nach. Es könnte ja schließlich sein, dass etwas fehlt! Und das wäre eine Katastrophe!

An manchen Abenden steht Sebastian im Laufe einer einzigen Stunde mindestens sechs Mal auf, und geht zu seiner Schultasche, um die darin befindlichen Sachen auf ihre Vollständigkeit zu kontrollieren.

Nach dem Unterricht besucht er hie und da seinen einzigen Freund. Er nennt ihn nie beim Namen; weiß aber, dass er Fred heißt. Das spielt keine Rolle. Der Bub ist ein Technik-Freak. Er bastelt kleine Raketen, die explodieren, und besitzt einen Physik-Baukasten. Sebastian schaut ihm dabei zu, wie er allerlei Experimente macht. Das ist alles. Er kommt nie auf die Idee, gemeinsam mit dem „namenlosen“ Freund etwas zu unternehmen. Seine Mutter weiß nie, wo er sich befindet, wenn er weg ist. Er sagt nämlich nie etwas. Eines Tages spielt es einen lustigen Film im Kabelfernsehen, und er bleibt länger als sonst bei dem Raketen-Bastler. Da ruft seine Mutter bei Frau H. an, und fragt, ob „Basti“ da sei.

„Freilich ist er da, und mein Sohn und er sind wie ein Herz und eine Seele.“

„Er soll sofort nach Hause kommen.“

Sebastian lässt sich immer lange Zeit, wenn er in die Schule geht. Er möchte nicht unnötig darauf warten, dass die Glocke die erste Unterrichtsstunde einläutet. Es ist genau geplant, wann er aufsteht, frühstückt, sich anzieht, und insbesondere, wann er weg geht. Er geht fast um die Sekunde genau sieben Minuten vor acht Uhr aus dem Haus. Für die vierhundert Meter braucht er maximal sechs Minuten und fünfzehn Sekunden, wie er schon mehrmals gestoppt hat. Die restlichen Sekunden muss er mit dem Betreten der Klasse, und dem sinnlosen Anziehen von Hauspatschen vertrödeln. Buchstäblich mit dem Erklingen der Schulglocke sitzt er dann neben seinem Klassenkameraden.

Oft ist er mit seinen Gedanken weit vom Unterricht entfernt. Er denkt sich Geschichten aus; diesmal welche, die von einem Mann handeln, der einen Zirkus verkaufen möchte. Oder er freut sich schon auf den Sonntag, wo er sich wieder ein Spiel seines Lieblingsfußballvereins, dem Wiener Sportclub, anschauen wird.

„Das wird wieder super werden“, denkt er sich, als er im Finale um den Rechenkönig steht.

Diesmal bekommt er es mit einem Mädchen zu tun, das noch nie gewonnen hat. Er beschließt, sie gewinnen zu lassen. Das Mädchen freut sich, und er weiß insgeheim, dass er den Kindern im Rechnen überlegen ist.

Er geht nicht mehr in den Hort. Dieser Ort des Schreckens hat ihm nur Zeit gestohlen. Er will so rasch wie möglich nach dem Unterricht die Hausaufgaben machen. Gegen fünfzehn Uhr schaut er sich dann die Kinderserie „Pan Tau“ an, und danach liest er das neueste „lustige Taschenbuch“. Er kann „Entenhausen“ mehr abgewinnen als der realen Welt.

Die Kontrolle seiner Schultasche ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn er schlafen geht, dreht er nicht sofort das Licht ab, weil er ohnehin weiß, dass er noch in seiner Schultasche Nachschau halten muß. Und selbst wenn er das Licht schon abgedreht hat, steht er bald wieder auf, und kontrolliert die Vollständigkeit seiner Schulsachen. Er weiß noch nicht, dass das damit zusammen hängen könnte, ein einziges Mal ein fremdes Buch eingesteckt zu haben. Andererseits wäre es auch möglich, dass eines seiner eigenen Bücher oder ein anderer für die Schule relevanter Gegenstand fehlt. Sollte dies der Fall sein, würde er trotzdem nicht nachfragen. Sebastian hat sein Leben voll im Griff, und unter Kontrolle. Wenn da nur nicht die anderen Menschen wären, die sein Leben so leicht verunsichern können...

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:01

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