Die Spaziergänge mit seinen Großeltern und Eltern in der Prater Hauptallee gehören zu den schönsten Ereignissen, die Sebastian als Kind erlebt. Er geht stets mit Großvater und Vater voraus, während Großmutter und Mutter einige Meter dahinter voranschreiten. Die Familienzusammenkünfte finden jeweils sonntags statt.
Es ist ein Ritual, das der Bub hoch schätzt. Er hat die Angewohnheit, seine Schritte zu zählen; ausgehend von einem Baum in der Nähe des Riesenrades bis zum Lusthaus. Das ist der Grund dafür, warum er sich nur ungern mit Großvater und Vater unterhält. Er bekommt meist nur am Rande seiner Schrittzählungen mit, was die beiden Männer zu erzählen haben.
Im Kopf schwirren ihm ständig Gedanken herum, die er nicht zu zähmen in der Lage ist. Er hat ständig Angst, etwas zu verlieren oder mit Menschen in Konflikt zu geraten, die er nicht mag.
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„Alles o.k, Basti?“
„Hallo, Basti. Träumst du schon wieder?“
Es dauert eine halbe Minute, ehe Sebastian reagiert. Sein Vater bestellt sich wie üblich ein Bier; ebenso sein Großvater. Mutter und Großmutter gönnen sich an diesem mittelprächtigen Sommertag zwei Spritzer. Der Namen nahezu negierende Zwangsneurotiker im Entwicklungsstadium leert sein Glas Traubi-Soda mit nur wenigen Schlücken.
Am Tisch sitzt Sebastian fast völlig versteinert. Er hat diesmal dreitausenddreihundertdreiunddreißig Schritte gezählt. Das sind um vierundvierzig mehr als beim letzten Mal. Er trägt diese Summe später in ein kleines Heft ein, wo ungewöhnliche „Rekorde“ verewigt werden. Im letzten Monat etwa wurde er gleich zwölf Mal von ziemlichen Rabauken verprügelt, wobei er allerdings keine bleibenden Schäden davontrug. Vier Mal schlug er zurück, und einmal hatte einer der grausamen Knaben den Verlust eines Schneidezahns zu beklagen. Diese Ruhmestat bekam natürlich einen Ehrenplatz in der Liste der Rekorde.
Als er einmal viel zu spät in Richtung Schule aufbrach, schaffte er es im Laufschritt, in nur drei Minuten und zwölf Sekunden das Klassenzimmer zu betreten, und wie üblich mit dem Klingeln der Schulglocke seinen Platz einzunehmen. Ein fast unschlagbarer Rekord.
„Der Turnbeutel ist immer noch verschwunden“, sagt Sebastian für die restliche Familie überraschend.
„Ich verstehe nicht, wie ich ihn in der Straßenbahn vergessen konnte. Ich pass´ doch immer so genau auf.“
„Das kann doch jedem mal passieren“, sagt seine Mama. „Ist ganz normal, glaub´ mir.“
Dennoch kann er es nach wie vor nicht fassen, eine derartige Aktion gesetzt zu haben. Er hat den Turnbeutel beim Verlassen des Turnsaals einfach nicht mitgenommen. So was konnte nur Idioten passieren, und jetzt war er selbst ein Idiot! Dabei kontrolliert er jeden Abend mehrmals, ob die Turnsachen komplett im Beutel sind, wenn am nächsten Tag eine Turnstunde angesetzt ist. Dieses Mißgeschick hätte nicht passieren dürfen.
Sebastian wird zum Dosenschießen von seiner Oma eingeladen. Er gewinnt einen ziemlich großen Stoffaffen, der schnell zu seinem erklärten Liebling wird. Dieser Affe soll nunmehr darauf aufpassen, dass seinen Schulsachen nichts passiert. Der Bub ist jetzt zehn Jahre alt, und kurz vor dem Sprung ins Gymnasium.
„Ich habe eine Riesenüberraschung für dich“, sagt eines Tages sein Vater, und streckt seinem Sohn den vermissten Turnbeutel vor die Nase.
„Das ist wirklich eine Überraschung“, sagt Sebastian, der das Wort „Papa“ als Anrede nur ungern hinzufügt.
„Der Schulwart hat ihn in einem Mistkübel gefunden. Es ist noch alles drin, absolut vollzählig.“
„Wenn der in einem Mistkübel war, kann ich ihn nicht mehr verwenden.“
„Ach was, Junge! Mama wird ihn waschen, und damit hat sich die Sache.“
„Da sind gefährliche Bakterien drauf. Und die Turnsachen will ich nicht mehr anziehen.“
„Blödsinn, Basti! Warum sollten wir dir einen neuen Turnbeutel, und neue Turnsachen kaufen, wo doch jetzt der alte wieder aufgetaucht ist? Ist doch super, dass der Schulwart ihn gefunden hat!“
Sebastian spricht ganz leise.
„Ich kann die Sachen nicht mehr anziehen. Das geht nicht.“
Seine Eltern wollen keine neuen Turnsachen kaufen. Nur wenige Tage später verliert er den Turnbeutel endgültig – und absichtlich. Dafür wird er nicht zur Rechenschaft gezogen.