Im Gymnasium hat es Sebastian sehr schwer. Das hängt nicht damit zusammen, dass er den Lehrstoff nur schwer verdauen mag. Er gehört vielmehr zu den intelligentesten Schülern seiner Klasse. Nein, das Problem liegt in jenem Bereich, der nunmehr ein Bündel von Zwängen ausmacht.

In der Volksschule war es für ihn kein Problem gewesen, einen Test oder ein Diktat mehrfach zu kontrollieren. Er schrieb schnell, und machte kaum Fehler. Somit blieb immer genug Zeit, seiner Zwanghaftigkeit nachzugehen. Die neue Schule bringt einen größeren Umfang an Lernvolumen mit sich. Und für Schularbeiten ist gerade so viel Zeit veranschlagt, dass ein Durchschnittsschüler die verlangten Beispiele rechtzeitig lösen kann. Sebastian ist kein Durchschnittsschüler, sondern ein übermäßig begabtes Kind. Er schreibt fast täglich kleine Erzählungen, kann mathematische Aufgaben samt und sonders logisch nachvollziehen, und ist ein überaus neugieriger Gymnasiast. Doch niemand wundert sich darüber, dass seine Leistungen nicht dementsprechend sind.

Wenn er eine Schularbeit bearbeitet, ist er oft in der Hälfte der zur Verfügung stehenden Zeit fertig. Er ist aber nie mit dem Ergebnis zufrieden. Jeder Satz muss wieder und wieder auf seine Richtigkeit überprüft, jede Rechenaufgabe von verschiedensten Perspektiven betrachtet werden. Es kommt vor, dass er eine richtige Lösung durchstreicht, weil er von diesem Resultat nicht gänzlich überzeugt ist. Dann zermartert er sich den Kopf darüber, wie noch vorgegangen werden könnte. Darüber verrinnt die Zeit, und die Note ist dementsprechend.

Das größte Malheur für ihn passiert dann, wenn er von einer einzelnen Aufgabe völlig in Anspruch genommen wird. Er verbeißt sich buchstäblich in diese Aufgabe, und geht nicht von ihr ab, bis die Schularbeit abgegeben werden muß. Der Lehrer schaut dann kurz in das Heft hinein, und sieht etwa eine verwirrende Anzahl von Rechenoperationen, die ins Nichts führen mochten. Einem konfus durchgerechneten Beispiel stehen vier oder fünf unbearbeitete Aufgaben gegenüber. Am Ende der ersten Klasse ist der Notendurchschnitt von Sebastian als mäßig zu bezeichnen. Nur in Deutsch sind seine Leistungen zufriedenstellend. Sowohl in Mathematik als auch in Englisch quält er sich nur mit Mühe in die zweite Klasse.

Es ist keineswegs verwunderlich, dass sich die Probleme im zweiten Gymnasialjahr vergrößern. Er hat seine Zwänge mittlerweile perfektioniert, und ist häufig während der Schularbeiten damit beschäftigt, Aufgaben nicht zu lösen zu versuchen, sondern in Gedankenschleifen zu geraten, die teilweise mit dem Schularbeitsstoff nichts zu tun haben. Allerdings erzählt er niemandem davon, welche eigenartigen Vorstellungen sich in seinem Gehirn einnisten. Er tendiert dazu, sich Schülerinnen nackt vorzustellen, oder Rechnungen im Kopf zu lösen, wenngleich er einen Geographietest zu absolvieren hat.

Seine Mutter glaubt, dass das Gymnasium für ihn zu „schwer“ sei, und meldet ihn in einer Hauptschule an, wo er zweieinhalb sinnlose Jahre verbringen wird. Er kämpft nach wie vor mit allerlei Zwängen, und schließt diese Schule ohne nennenswerten Erfolg ab. Das Abschlußzeugnis möchte er am liebsten zerreißen, und in alle Winde verstreuen. Irgend etwas in ihm sträubt sich aber dagegen.

Mit fünfzehn Jahren ist Sebastian zu einem schrulligen, einsamen Außenseiter geworden, der am liebsten mit sich selbst spricht. Es gibt Abende, an denen er in der Küche steht, und mehrere Stunden über seine eigene Situation philosophiert. Er schreibt mehr als je zuvor, und es gibt nur ein einziges Thema: Seine eigene Ausweglosigkeit. Unmöglich scheint es für ihn zu sein, den Umständen zu trotzen. Etwas „in ihm“ bremst ihn. Er kann dieses „Etwas“ jedoch nicht benennen. Sein einziger Freund Simon kommt nie an ihn heran. Sebastian erzählt nichts von sich selbst und seinen Schwierigkeiten. Die Gespräche handeln meist von Fußball, Mädchen oder Fernsehfilmen.

Er fühlt sich winzig klein. Ein unbedeutender Punkt im Universum, der bald erlöschen wird. Für immer. Er kann sich vorstellen, dabei nachzuhelfen, dass es vor der Zeit geschieht. Seine Gedanken werden immer düsterer. Er träumt von Kriegen, Mordanschlägen, brennenden Skipisten.

Es kommt der Tag, an dem er sich entscheiden muß, ob er weiter in die Schule gehen, oder aber einen Beruf erlernen will. Ohne die Entscheidung als wichtig einzustufen, bewirbt er sich bei einer Tageszeitung als Lehrling. Er wird nach Absolvierung eines Tests sofort aufgenommen, und soll bald darauf ins Berufsleben einsteigen.

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