Sebastian im Reich der Zwänge, Teil 8

Nach dem Ende der Lehrzeit entscheidet sich Sebastian, eine Abendschule zu besuchen, und eventuell die Matura nachzuholen. Er ist unglücklich, und macht sich keinerlei Illusionen über sein Leben. Seine schwarzhaarige Fee verschwand plötzlich, und wenn er ihr später weitere Liebesbriefe schreiben wird, braucht er sich keine Antwort zu erwarten.

Suizidgedanken tauchen nun häufiger auf. Er grübelt ständig über Dinge, die sein Leben nur am Rande betreffen. In seinen düsteren Vorstellungen befangen besucht er die Abendschule. Zu den Mitschülern nimmt er keinen Kontakt auf. Er verschließt sich noch mehr, als es ohnehin schon der Fall ist. Kein Wort kommt über seine Lippen, insofern er nicht nach irgendetwas gefragt wird. So wäre es womöglich lange weitergegangen, wenn nicht etwas Unglaubliches passiert wäre, das sein Leben völlig aus dem Tritt bringen sollte.

Ein Mann, der Mitte 40 sein mochte, betritt den Klassenraum mit einem Lächeln auf den Lippen. Am Lehrertisch angekommen tippt er sich an die Stirn, und bemerkt sofort Sebastian, der als einziger Schüler alleine in einer Bank sitzt.

„Heute geht es um Kommunikation“, sagt er, und geht auf den jungen Mann zu, der nach wie vor wenig von Namen hält.

„Wie heißt du?“, fragt er ihn.

Die anderen Lehrer duzen den schweigsamen Schüler nicht. Er ist ein wenig verwundert; irgendwie spürt er gleichzeitig, dass von diesem Mann etwas Besonderes ausgeht, welches er nicht zu beschreiben vermag.

„Sebastian K.“, sagt er.

„Ein schöner Name“, sagt der Lehrer, und klopft seinem Zögling auf die Schulter.

„Wenn du magst, dann kannst du dich in die letzte Reihe setzen, und mit den Jungs diskutieren, die sich, so scheint´s, gerne verstecken.“

„Ja, genau, komm´ zu uns, Kamerad.“

Ein blonder Schüler winkt ihn zu sich heran, Sebastian packt seine Schulsachen, und macht sich auf den Weg.

Dies ist der Beginn einer erstaunlichen Verwandlung.

Es bleibt kein Stein auf dem Anderen. Und es geschieht mit einem Mal etwas, das für Sebastian total ungewohnt ist: Er geht gerne in die Schule.

Die Arbeit macht ihm von einem Tag auf den anderen ebenso mehr Spaß. Er sieht oft Herrn Specht vor sich, der eine Blockade in ihm gelöst hat. Zwar fühlt er sich nach wie vor gehemmt, und zögerlich; doch es fällt ihm leichter, mit Menschen zu kommunizieren, und sogar mit so manchem Mädchen in der Klasse tauscht er sich aus.

An seinem Arbeitsplatz ist er für die Portokassa, und Korrespondenz zuständig. Außerdem liest er mindestens zwei Stunden am Tag schwachsinnige Leserbriefe, und sortiert jene aus, die nicht in das Konzept der Tageszeitung passen. Am Ende bleibt nicht allzuviel übrig. Er kann den dumpfen Worten zwar nichts abgewinnen; weiß aber nunmehr, dass er viel besser schreiben kann.

Ungefähr zwölf Mal am Tag kontrolliert er die Portokassa. Wenn er einen Brief geschrieben hat, liest er ihn mindestens sechs Mal durch, bis er glaubt, keinen Fehler mehr entdecken zu können. Dennoch lässt es sich nicht vermeiden, dass er ihn ein weiteres Mal liest, und dies wäre nicht das Ende der Fahnenstange, insofern der Abteilungsleiter nicht ins Zimmer käme, um die Post abzuholen.

„Wie schaut´s mit den Leserbriefen aus?“

Diese Frage stellt der Kollege jeden Tag, und Sebastian zuckt jedes Mal daraufhin mit den Schultern. Dieses Ritual teilen Herr V. und er.

Wenn er auf dem Weg zur U-Bahn die Post in den Briefkasten wirft, schaut er jedes Mal, ob die Adressen richtig geschrieben, und seiner Erinnerung nach korrekt sind. Sebastian beschleicht eine große Unsicherheit, wenn die Post im Briefkasten verschwindet. Es könnte irgendetwas an den Adressen nicht stimmen, und er wäre letztlich für den Fehler verantwortlich.

Eines Tages muß er dem Personalbüro einen Besuch abstatten. Die vollbusige Frau des Zeitungsinhabers teilt ihm mit, dass aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen eine größere Anzahl von Mitarbeitern gekündigt werde. Er sei einer der Betroffenen. Die Mitteilung trifft Sebastian wie ein Hammer. Er kann es zunächst gar nicht glauben, und fragt nach, ob dies denn unabänderlich sei.

„Es tut uns leid“, sagt die Frau, mit der er sich immer gut verstanden hat. Einmal hatte er sogar einen erotischen Traum, in dem sie vorkam. Der Schock sitzt ihm noch in den Knochen, als er abends in der Schule eintrifft.

Herr Specht bemerkt, dass mit seinem Lieblingsschüler etwas nicht stimmt. Er spricht mit ihm während einer Pause, und versucht Sebastian zu beruhigen. Im Laufe der nächsten Wochen schreibt Sebastian jeden Tag an einem Roman, den er später zu veröffentlichen beabsichtigt. Die erste Deutschschularbeit wird von Herrn Specht überdimensional gut bewertet, und Sebastian fühlt sich wie ein Schneekönig. Was hat es schon zu bedeuten, dass er gekündigt wird! Er wird sich bald etwas Neues finden; da ist er sich sicher!

Er beteiligt sich an mehreren Literaturzirkeln, macht bei Literaturwettbewerben mit, und liest innerhalb kürzester Zeit mehr Bücher, als er je zuvor gelesen hat. An einem heiteren Herbstabend spricht er ein wunderschönes Mädchen an, und sie sieht ihn mit großen Augen an. Sie sagt ihm, dass sie nicht mehr lange in die Schule gehen könne, da sie bald operiert werden müsse. Er begleitet sie bis zu ihrem Elternhaus, und sie möchte nicht, dass er jetzt nach Hause geht. Sie stellt ihn ihrer Mutter vor, und danach gehen sie in ein kleines Zimmer. Es dauert nicht lange, bis Sebastian mit dem Mädchen nackt auf dem Bett liegt. Er wird dieses wunderschöne Mädchen nie wieder sehen, und später durch Zufall erfahren, dass sie nur wenig später verstorben ist.

Mehrere Wochen wird die Deutschstunde von einer Lehrerin subliert, da Herr Specht erkrankt ist. Bald kommt eine schreckliche Gewissheit ans Tageslicht: Der großartige Lehrer leidet schon seit Jahren an Leukämie, und die Krankheit ist schon sehr weit fortgeschritten. Während einer Französisch-Stunde sagt die Lehrerin mit leiser Stimme, dass der Kollege Specht verstorben sei. Sebastian bleibt an diesem Abend nicht bis zur letzten Stunde. Er verlässt bald den Unterricht, und geht auf seiner geliebten Donauinsel spazieren. Sein Kopf fühlt sich unheimlich schwer an.

Er kann es nicht glauben, dass Herr Specht verstorben ist. Der Mensch, der ihn so sehr gefördert hat. Der das Leben seines Schülers revolutioniert hat.

Sebastian wird diesen wunderbaren Menschen immer in lieber Erinnerung behalten, und er kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzen, was dieser Mensch in seinen letzten Lebensmonaten getan hat: Er hat einen Menschen, nämlich den unreifen Zögling Sebastian, in einen Entwicklungsprozeß katapultiert, der hurtig voranschreiten, und das langweilige Leben zerstören wird, unter dem der Zwangsneurotiker so lange zu leiden hatte.

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