Fünf Jahre später sitzt Sebastian an seinem Schreibtisch, und starrt auf ein weißes Blatt Papier. Er möchte endlich wieder Gedanken zu Papier bringen. Es ist zu viel passiert, um es im Kopf zu belassen. Dort könnten zahlreiche Explosionen stattfinden.

Der Tod seines Lehrers belastete ihn eklatant. Das führte so weit, dass er fast nichts mehr lernte, und lieber Carambol spielte. Er besuchte mehrmals die Woche seltsame Lokalitäten, und diskutierte mit Menschen, die vom Leben schwer gezeichnet waren. Eines Abends sprach ihn auf der Straße eine junge Frau an, die ganz verheulte Augen hatte. Sie war vor wenigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen worden, und hatte seitdem kaum etwas gegessen. Er, der immer eklatante Probleme damit hatte, instinktive Entscheidungen zu treffen, lud die Frau auf ein Abendessen ein, und spendierte dazu eine Flasche Wein.

Sebastian erzählte nie freiwillig von sich. Dafür öffnete die fremde Frau ihm ihr Herz, und sprach mehrere Stunden von ihrem Leben, das von Anfang an schief gelaufen war. Als sie ihre Hände auf seine Hände legte, ließ er dies geschehen, und schaute ihr lange Zeit in die Augen. Sie hatte große, wunderschöne Augen. Er war von diesem Schicksal ergriffen, das ihm offenbart worden war. Einmal galt die Aufmerksamkeit nicht ihm selbst, und das hinterließ in ihm ein Gefühl der Befreiung.

Nur wenige Monate später lernte er Lisa kennen; jenen Lebensmenschen, mit dem er jetzt seit vielen Jahren verheiratet ist. Ihre Wege kreuzten sich, und es ergab sich ganz leicht, dass eine Vertrautheit entstand, die seine Vorstellungen bei weitem übertraf. Sie redeten miteinander, sie teilten ihre Sorgen, sie nahmen sich an den Händen, sie liebten sich.

Sebastian will von der unmittelbaren Vergangenheit schreiben; aber er schafft es nicht. Nicht einen Satz bringt er zusammen. Vor drei Wochen hatte der Urlaub so schön begonnen. Die Kinder von Lisa spielten am Strand, und Lisa und er lasen in der Sonne Griechenlands. Es war der erste Urlaub, den Sebastian mit seiner neuen Familie gemeinsam verbrachte. Nach ein paar Tagen endete das sorgenfreie Leben. Er hatte das Gefühl, seinen Atem kontrollieren zu müssen. Den ganzen Tag konnte er an nichts anderes denken, und war von niemandem ansprechbar. Die Kinder waren verständlicherweise verwundert. Und Lisa lernte jenen Zug an ihn kennen, den er bislang gekonnt verschwiegen hatte.

Seit er Lisa kannte, waren die zwangsneurotischen Symptome stark zurückgegangen. Natürlich war es ihm weiterhin so gut wie unmöglich, Menschen mit Namen anzusprechen. Auch seine Frau ist da nicht auszunehmen. Er kontrollierte nach wie vor gewisse Dinge (etwa, ob die Wohnung abgesperrt ist, ein Briefumschlag den richtigen Absender, und den richtigen Empfänger aufweist oder die Schlüssel nicht vom Schlüsselbrett gefallen sind); die einst so extreme innere Unruhe war aber nicht mehr vorhanden. Und mit einem Mal brach sie wieder aus, und er litt schrecklich unter dem Zwang, dass er zu atmen vergessen könne.

Ja, es passiert automatisch, klar! Er wußte und weiß das.

Aber der Zwangsneurotiker weiß ohnehin, dass seine Zwänge unsinnig sind, und es keinen Grund gibt, Dingen einen übertrieben bedeutenden Wert beizumessen. Doch das ändert nichts an der Tatsache, einem Zwang plötzlich ausgesetzt zu sein, und dagegen kaum etwas unternehmen zu können. Und Sebastian glaubte, bis an sein Lebensende dem Zwang zu unterliegen, seinen Atem zu kontrollieren. Er vermochte nur dann den Zwang kurzfristig zu vergessen, wenn er ein Glas Wein oder einen Cocktail trank. Ansonsten war dieser Zwang das einzige Gesprächsthema, und Lisa war für diesen „Urlaub“ nicht mehr zu beneiden.

Sebastian hört ein leises Klopfen. Seine Frau betritt das Zimmer, und setzt sich auf seinen Schoß.

„Hast du es dir überlegt?“

„Ich denke, ja“, sagt er, und gibt ihr einen Kuß.

„Du wirst es also durchziehen?“

„Ich denke, es muß sein. Es kann so nicht weitergehen. Ich dachte schon, es wäre alles überstanden. Aber es bleibt immer etwas zurück. Ich fühle mich auch jetzt unwohl.“

Auf das weiße Blatt Papier schreibt er ein einziges Wort: THERAPIE

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Bernhard Juranek

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