Die internationale Diskussion rund um die Vorgänge der Türkei wird immer skurriler. Da twittert ein Berater von Erdogan doch glatt "Verpiss dich, Ungläubiger!" in Richtung des österreichischen Bundeskanzlers. Zuvor nannte der türkische Außenminister Österreich die Hauptstadt des radikalen Rassismus, der türkische Europaminister stellte Bundeskanzler Kern für seine Aussagen ins rechte Eck. Lustig, eigentlich, wenn solche Meldungen aus einem Staat kommen, der gerade eindeutig zur Diktatur wird.

Auslöser für die außenpolitische Schlammschlacht war ein Interview von Christian Kern in der „Zeit im Bild“. In diesem sagte er sinngemäß, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien nur mehr diplomatische Nettigkeiten und man könne sie nach momentanem Stand genauso gut abbrechen. Andere europäische Kollegen aus Deutschland und Brüssel stellen sich dagegen. Aber in diesem Punkt ist Bundeskanzler Kern eindeutig zuzustimmen.

Die Türkei wird zur Diktatur

Die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union sollten Staaten nur dann offen stehen, wenn sie europäische Grundwerte teilen – zum Beispiel das generelle Ideal der „Freiheit“, aber natürlich auch die sehr spezifische Rechtsstaatlichkeit oder liberale Demokratie. Natürlich ist die Union zuerst als Wirtschaftsunion konzipiert, und gegen freien Handel mag man auch nichts einwenden. Aber was ist seit dem Putschversuch am 15. Juli in der Türkei passiert?

• Über 10.000 Menschen wurden festgenommen.

• Die türkische Polizei fordert Bürger auf, ihre Mitmenschen zu denunzieren.

• Erdogan fordert die Auslieferung von Fethullah Gülen.

• Todesstrafe als Maßnahme gegen Terroristen wird diskutiert.

• 24 TV-Sendern wurde die Lizenz entzogen.

• Akademiker dürfen das Land nicht verlassen, werden vom Ausland in die Türkei beordert.

• WikiLeaks wird gesperrt, nachdem 300.000 AKP-Mails veröffentlicht wurden.

• Im Bildungsministerium werden 150.000 Mitarbeiter suspendiert.

• 2750 Richter wurden entlassen.

• Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen, die Menschenrechtskonvention ausgesetzt.

Schon vor dem Putschversuch galt das – Erdogans brutaler Krieg gegen die Kurden und seine Zensur von Medien alleine dürften schon Grund genug gewesen sein, für einen Abbruch der Verhandlungen zu sein. Wenn man sich diese Liste ansieht, dann kann das nichts mit Europa zu tun haben.

Gefährliche Abhängigkeit

Aber: Wir sind abhängig. Wie Außenminister Kurz seit Beginn des „Türkei-Deals“ richtig behauptet, begibt sich die Europäische Union in ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis. Wenn man weiter auf die Türkei baut, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, legitimiert und unterstützt man ein mehr und mehr diktatorisches Regime – mit der Gefahr, dass dieses Regime irgendwann einfach den Pakt kündigt und wir einen neuen Plan brauchen.

Die einzig richtige Lösung wäre daher der Abbruch der Austrittsverhandlungen mit der Türkei. Nicht nur aus moralischen, sondern auch aus demokratiepolitischen Gründen – es würde wohl kein Volk der EU-Staaten momentan für einen Beitritt der Türkei abstimmen. Wenn der Sommer überstanden ist, wird sich auch der Flüchtlingsstrom vermutlich wieder beruhigen – und über den Winter hätte Europa dann genug Zeit, um einen eigenen Plan zur Grenzsicherung inklusive fairer Asylverfahren zu konzipieren. Und das ganz ohne Erdogan.

Hoffen wir, dass sich die europäischen Regierungschefs darauf einigen können und aufhören, den neuen türkischen Diktator zu unterstützen. Denn diese Türkei ist nicht Europa – unter Erdogan ist sie der Nahe Osten.

Shutterstock/thomas koch

7
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

lie.bell

lie.bell bewertete diesen Eintrag 09.08.2016 19:25:02

Spinnchen

Spinnchen bewertete diesen Eintrag 09.08.2016 11:43:52

Charlotte

Charlotte bewertete diesen Eintrag 09.08.2016 09:19:32

Die Tempeltänzerin

Die Tempeltänzerin bewertete diesen Eintrag 09.08.2016 08:44:15

pirandello

pirandello bewertete diesen Eintrag 09.08.2016 01:11:47

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 08.08.2016 22:59:06

dohle

dohle bewertete diesen Eintrag 08.08.2016 19:42:38

51 Kommentare

Mehr von Stefan Schett