Der folgende Text ist Teil eines Pro / Contra-Streitgesprächs, das über Fisch+Fleisch mit Susannah Winter ausgefochten werden soll. Sie ist dabei "Pro Tabu", ich nehme die Contra-Seite ein. Das alles war ihre Idee und ich finde das Format einfach klasse und habe zu dem Thema auch etwas zu sagen - es ist ja quasi mein Job, gegen Tabus zu sein. So als Powi-Student, junger Mensch oder was auch immer. Die Gegendarstellung von Susannah findet ihr hier.
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„Wenn es etwas gibt, das mich ankotzt, dann sind das Konservative“. Solche oder ähnliche Aussagen können in meinem Freundeskreis schon mal vorkommen. Und warum auch nicht? Wir sind jung. Es ist quasi unser Job, die gesellschaftlichen Konventionen zu hinterfragen und / oder aus Prinzip scheiße zu finden. Alles, bei dem es ums „Bewahren“ geht, klingt nach uns für „Stillstand“. Und diese „berechtigten Tabus“? Die nerven einfach.
Wikipedia ist der Konfuzius meiner Generation. Und Wikipedia sagt:„Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk bzw. einer kulturell überformten Übereinkunft, die bestimmte Verhaltensweisen auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos, sie sind universell und ubiquitär, sie sind mithin Bestandteil einer funktionierenden menschlichen Gesellschaft. Dabei bleiben Tabus als soziale Normen unausgesprochen oder werden allenfalls durch indirekte Thematisierung (z. B. Ironie) oder beredtes Schweigen angedeutet: Insofern ist das mit Tabu Belegte jeglicher rationalen Begründung und Kritik entzogen.“
Das klingt irgendwie uncool, aber vorerst schlüssig. Wenn etwas „bedingungslos“ und „Bestandteil einer funktionierenden menschlichen Gesellschaft“ ist, kann’s wohl nicht so schlecht sein. Könnte man meinen. Wenn unter „Tabus“ nicht auch sensible und politisch wichtige Themen wie Sexualität und Sterbehilfe fallen würden.
Zum Thema „Vernunftrecht“
Unter Konservativen ist der Verweis auf die „Vernunft“, das „Naturrecht“ und die Phrase des „Jeder weiß“ stark dominierend. So dürfen Homosexuelle in Österreich nach wie vor nicht heiraten, weil einige Berufsbremser die Meinung vertreten, das sei „unnatürlich“. Das stünde nämlich in diesem heiligen Buch, in dem Schlangen sprechen, Menschen übers Wasser gehen und Jungfrauen Kinder kriegen. Genau das illustriert eigentlich schon Genüge, warum Tabus nerven.
Im Falle der Homosexualität gibt es lediglich einen großen Unterschied zwischen dem, was die Entscheidungsträger denken und wie sie argumentieren, und dem, was ihre Wähler denken. Jede Wette, eine Volksabstimmung nach irischem Vorbild würde das Tabu der Homosexualität – das gesellschaftlich viel liberaler behandelt wird als politisch – aufbrechen und gleiches Recht für alle schaffen.
Das heißt nicht, dass Verweise auf die Vernunft immer gleich obsolet sein müssen. Natürlich gibt es bei den meisten kontroversen Themen auch Menschen, die mit ihrer Meinung aus der Reihe tanzen – dennoch gibt es diese Dinge, über die Konsens herrscht.
Tabus und Politik
Als Frank Stronach im Wahlkampf zur Nationalratswahl 2013 die Todesstrafe für „geplanten Berufsmord“ erwähnt hatte, war’s vorbei mit seiner politischen Karriere – der Konsens, dass die Todesstrafe in einem zivilisierten europäischen Land nichts zu suchen hat, war zu groß, um diskutiert zu werden. Weniger als ein Jahr später kostete Angelika Mlinar mit ihrer Aussage zur Wasserprivatisierung die Neos einige Wähler – der persönliche politische Schaden blieb da allerdings begrenzt. Beide haben versucht, Tabus anzusprechen.
Selbst wenn ich die Todesstrafe und die Privatisierung von Wasser ablehne, heißt das nicht, dass ich es ihnen übel nehme. Politik ist ein Wettbewerb der Ideen – wenn die Neos denken, Privatisierungen sind der richtige Weg, dann sollen sie sich trauen und das aussprechen. Die Idee an sich abzulehnen heißt nicht, Ideen an sich abzulehnen. Die FPÖ tritt regelmäßig für ein ausländerfeindliches Gedankengut ein – und der Wählerwille bestätigt dies. Das ist grausig, gehört aber zu einer Demokratie dazu.
Da kann man drüber reden
Letztlich geht es mir aber um mehr bei meiner Kritik am Tabu. Denn da, wo Diskurs aufhört, fängt Zwang an. Von Zwängen halte ich nichts. Ich persönlich bin weniger damit konfrontiert, da ich in vielen Fällen nicht aus Zwang, sondern aus einem freien Prozess heraus eine eher politisch korrekte Meinung vertrete. Dennoch darf es nicht sein, dass der Diskurs über gewisse Themen verboten wird.
Vor kurzem hatte ich Kontakt mit den Identitären, nachdem ich sie auf meinem persönlichen Blog als „politisierte Identitätskrise“ bezeichnet hatte. Ich verstehe es komplett, wenn man die Identitären ignoriert – das sind moderne Neonazis oder zumindest komische Nationalisten, mit deren Gedankengut man auf keinen gemeinsamen Nenner kommt. Ich selbst diskutiere mit ihnen manchmal auch eher halbherzig, aber ich suche mir halt aus, mich mit ihrer Meinung auseinanderzusetzen. Selbiges galt für die Kommunisten bei der ÖH-Wahl, diese Stammtisch-Ausländerfeinde und andere Gruppierungen, die mit politisch einfach gar nicht passen.
Auf der individuellen Ebene ist das okay. Wenn allerdings eine ganze Gesellschaft darauf getrimmt ist, gewissen Meinungen oder Themen keinen Platz zu geben, halte ich das für fragwürdig. Viele Vertreter des rechten Ecks – ob FPÖ, Identitäre, PEGIDA oder Andere – berufen sich darauf, dass ein eklatanter Unterschied bestünde zwischen öffentlicher Meinung und veröffentlichter Meinung. Die Taktik, auf die Ausländerfeinde draufzuhauen, hat nichts gebracht – sie wurden immer wütender und haben sich immer mehr verbreitet. Nun wurden Flüchtlinge angeschossen. Einen echten politischen Diskurs über die Flüchtlingsproblematik kann man sich nach wie vor nur wünschen – und das Klima in der Debatte wird immer aufgeheizter.
Wenn eine Meinung absurd ist und in einer Gesellschaft keine Mehrheit findet, muss man sie trotzdem sagen dürfen – das hält eine gesunde Demokratie aus. Das Verbotsgesetz und andere gesetzliche Einschränkungen sind Ausnahmen, die ich nicht hinterfragen möchte. Das alles führt mich aber erst zu meiner zentralen These: Es ist nämlich durchaus wünschenswert, Tabus zu kritisieren. Dazu ein Beispiel.
Ehe für alle als positives Beispiel
Das Thema Homosexualität und Ehe für alle bietet wieder das perfekte Beispiel dafür, warum man Tabus ansprechen muss. Ohne eine starke LGBT-Bewegung würden wir vermutlich heute noch in unserer hetero-dominierten Welt leben, ohne auch nur einen Gedanken an die zu verschwenden, die vor dem Gesetz nicht gleich sind. Dass viele Menschen das oft genug angesprochen haben, führt heute auch zu politischem Druck – auch, wenn die SPÖ bei der letzten Nationalratsabstimmung umgefallen ist, gibt es immer noch viele im Parlament und vor allem unter den Bürgern, die ein Aufbrechen dieses Tabus fordern.
Damit fordert die Gesellschaft schlichtweg eine Änderung der gesellschaftlichen Konventionen auch auf politischer Ebene ein. Denn in der gesellschaftlichen Realität sind die Homosexuellen längst angekommen. Manche meinen sogar, sie seien mittlerweile „überrepräsentiert“, wenn sie immer noch um ihre Rechte kämpfen. Ein eher konservatives Land wie Österreich hat damit natürlich eine bittere Pille zu schlucken – mutige Reformen und Aufbrechen von Traditionen ist ja nicht wirklich so unser Ding.
Die LGBT-Bewegung hat also da Erfolg, wo Stronach und Mlinar gescheitert sind – am Aufbrechen gesellschaftlicher und / oder politischer Konventionen. Das ist hervorragend, und das muss man auch dürfen. Viele, die das lesen, werden dem zustimmen können – würden sich aber gleichzeitig echauffieren, wenn nun jemand fordern würde, sein Haustier zu heiraten. Ich natürlich auch – allerdings ginge es mir dabei um die Idee an sich und nicht darum, dass das jetzt jemand ausspricht. Das würde sich auf das Phänomen eines weirden Dudes beschränken, der ein Tabu abschaffen will, das die Mehrheit will. Der soziale Druck gegen ihn wäre groß – und am Ende würde er wohl wieder die Goschn halten.
Über gesellschaftlichen Wandel
Tabus zu kritisieren heißt nicht, sie abzuschaffen. Es heißt, eine andere Meinung vertreten zu können. Voltaire sagte schon: "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst". Wenn ich also sage, ich würde gerne wissen, wie Menschenfleisch schmeckt, müsst ihr das aushalten – und ich mich mit der Tatsache abfinden, dass dieses Tabu niemand mit mir aufbrechen will.
Es spricht dennoch viel dafür, es auszusprechen. Denn die Gesellschaft war, behaupte ich, noch nie in so schnellem Wandel wie heutzutage.
Im Film „Zurück in die Zukunft“ reist Marty McFly vom Jahr 1985 aus ins Jahr 1955. Er bemerkt einige markante Unterschiede, zum Beispiel Kleidungsstile und „frühere“ Pop-Kultur – aber er findet sich zurück. In Teil 2 reist er von 1985 aus ins Jahr 2015 – und kommt in eine andere Welt voller fliegender Autos und Hoverboards. Mittlerweile haben wir 2015. Fliegende Autos gibt’s noch nicht und das Hoverboard ist erst in der Entwicklungsphase – aber das Internet, Smartphones, iPods und die technologisch bedingte Informationsrevolution mit immer neuen Innovationen konnte der Film nicht vorhersagen. Die Welt, die wir heute erleben, ist eine ganz andere als die der 80er-Jahre, während diese sich von den 50ern unwesentlicher unterschieden. Der Blog „Wait But Why“ hat das alles präziser ausgeführt.
Ich wuchs mit Schilling in einem Nicht-EU-Land auf und Internet war etwas Neues – mittlerweile lebe ich in einer Welt, die geradezu auf diesen neuen Errungenschaften basiert. Und der gesellschaftliche, technologische und politische Wandel der Welt wird sich weiter beschleunigen. Kann gut sein, dass ich in den nächsten 21 Jahren wiederum erlebe, wie sich die Welt in eine andere verwandelt. Nein – ich gehe sogar davon aus.
Brecht mit den Tabus!
Das wiederum bedingt für mich ebenfalls den Aufbruch gesellschaftlicher Konventionen. Zumindest in der demokratischen, „liberalen“, westlichen Welt muss es möglich sein, Tabus anzusprechen und – wenn sinnvoll und gesellschaftliche Gruppen außerhalb einzelner Weirdos das sinnvoll finden – auch abzuschaffen. Die Ehe für alle ist eine Frage der Zeit – doch auch andere Reizthemen werden großen Änderungsprozessen unterliegen.
Als Beispiel möchte ich aktive Sterbehilfe nennen – aber auch viele andere Themen, die vermutlich noch nicht mal auf unserer Landkarte von 2015 sind, werden wir diskutieren müssen. Was passiert mit uns, wenn wir tot sind – und was bedeutet das in Hinsicht auf unsere Daten? Oder in Bezug auf Organspenden? Wie werden die Möglichkeiten für die Frage „Was passiert mit mir nach meinem Tod“ aussehen, welche Risiken werden sie bergen? Wie wird die Digitalisierung unser Leben verändern und wie wirkt sich das auf unser Leben aus? Diese Kontroversen werden auch wieder zu gesellschaftlichen Konventionen führen – und ich hoffe, sie werde auch mit ein paar alten aufräumen.
Denn im Endeffekt geht es mir in diesem Artikel vor allem um eines – um Fortschritt. Ich behaupte ganz dreist, viele Tabus stehen gesellschaftlichem Fortschritt im Weg. Damit meine ich jene Änderungsprozesse einer Gesellschaft, die sie neu ausrichten und die die Denkprozesse einer Gesellschaft auf Dauer grundlegend verändern. Wo wäre Europa und die ganze Welt heute, hätten wir nicht die religiösen Dogmen überwunden und in der Aufklärung mit allen Tabus gebrochen? Geschichte wurde immer wieder von Querdenkern geschrieben – und von jenen großen Tabubrüchen, die die Sklavenhaltung, Apartheid, Kolonialisierung und generell die Diskriminierung und Ausbeutung anderer abgeschafft haben. Dieser Prozess ist längst nicht abgeschlossen.
Man mag sich an Themen wie Sterbehilfe, Sexualität, Tod usw. aufhängen und dabei eine konservative Meinung vertreten – fair enough. Allerdings muss es möglich sein, Tabus zu hinterfragen und diese nicht wie ein Dogma hinzunehmen. Denn das ist nicht gesellschaftlich wünschenswert – das ist Zwang, und das ist Stillstand. Wir sollten, nein, wir müssen die gesellschaftlichen Konventionen hinterfragen und darüber diskutieren – um sie im Falle, dass es sich dabei um Mist handelt, zu verwerfen. Da mag der naive junge Erwachsene mit Revoluzzergeist aus mir sprechen – aber das ist Fortschritt. Debate me now – keine Tabus!