Zur Boulevardisierung des Abendlandes

Irgendwann schreibe ich ein Buch. Ausnahmsweise ist das sogar halbwegs ernst gemeint. Denn jeden Artikel wieder möchte ich damit beginnen, wie schwer man’s hat als privilegierter Student der Politikwissenschaften, der nebenbei noch Wert auf differenzierten Medienkonsum setzt. Es ist nämlich alles andere als lustig, aus meiner solchen Sicht mit Menschen zu diskutieren, denen sowas fremd ist.

Kürzlich merkte ich das wieder, nachdem ich erfahren hatte, dass 261.159 Menschen in Österreich aktiv für den EU-Austritt gestimmt hatten. Das sind viele. So viele, dass eine „EU-Austrittspartei“, wie sie bei den Europawahlen schon angetreten ist, mit nur einem völlig absurden Vorschlag den Einzug ins Parlament schaffen könnte. Es tut einfach so weh.

Vor allem, weil ich mit den Verantwortlichen gesprochen habe. Beim Stand der EU-Gegner auf der Mariahilfer Straße, von dem mir eine ebenfalls negativ beeindruckte Politikwissenschafts-Kollegin erzählt hatte, konfrontierte ich sie mit einigen wenigen Fakten, nachdem sie mich mit Floskeln wie „Schon unterschrieben? Weil von irgendwas müss’ma ja leben“ plump überreden wollten, mich überreden zu lassen.

Es gibt genug Zahlen, Daten, Fakten zum Thema EU-Austritt. Kaum ein namhafter Ökonom wird behaupten, dass eine Rückkehr zum Schilling nicht verheerend wäre – auch, wenn die EU-Gegner mit genau einem auftrumpfen konnten. Außerdem mit einem weiteren Journalisten – mehr über ihn, zum Beispiel für welche Medien dieser schon beschäftigt war und warum ich ihn kennen sollte, konnten sie mir selbst nicht sagen. Aber man muss nicht mal auf die sachpolitische Ebene des Themas eingehen, um zu argumentieren, warum ein EU-Austritt eine Schnapsidee wäre.

Die EU hat uns Frieden gebracht, nicht zuletzt durch wirtschaftliche Abhängigkeiten voneinander. Sie setzt einheitliche Standards – die nicht immer die großen Themen sind, aber die Gurkenkrümmungs-Verordnung kommt auch ursprünglich aus Österreich und nicht aus der EU. Die EU sorgt für ein starkes Europa in Zeiten eines Machtverlusts von kleinen Nationalstaaten. Sie schafft eine stabile Währung – die gefühlte Teuerung im Vergleich zu Schilling-Zeiten findet auch trotz statt wegen des Euros statt. Die EU sorgt für eine starke Stimme der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Welt und befindet sich auf Augenhöhe mit den USA, Russland und China. Auch, wenn sie ihre Probleme hat – ich liebe die Idee eines vereinten Europas.

Aber was zählt das schon?

Wir sind hier in Österreich. Einem Land, in dem die „Kronen Zeitung“, die „Österreich“ und die „Heute“ einen erheblichen Teil des Medienkonsums auf sich vereinen und dem eine rechtspopulistische Angstpartei momentan in Umfragen auf Platz 1 steht. Diese beiden Probleme bedingen sich gegenseitig.

Die „Krone“ mag die EU nicht. Wenn sie die Roaminggebühren abschafft und dafür sorgt, dass man in der ganzen Union minimale Preise für Telefonie und SMS zahlt, ist das eine Ausnahme und man findet immer noch etwas Schlechtes daran. Aber wenn die EU eine Umweltrichtlinie einführt, titelt der Boulevard „EU WILL KAFFEE VERBIETEN!“ – Weil energiefressende Kaffeemaschinen unter anderem in diese Richtlinie fallen. Das Volk redet dem Boulevard und Strache nach dem Mund – die Ausländer und die EU sind schuld. Vermutlich beide. Angesichts der Leserzahlen der unverantwortlichen Schundblätter des Landes ist das Ergebnis des Volksbegehrens noch glimpflich ausgefallen.

Diese Boulevardisierung von Politik, dieses Nachreden stumpfer Phrasen, diese „gefühlte Lebensrealität“, die man nicht artikulieren kann. Sie macht die Politik kaputt. Politische Angelegenheit gewinnt der, der das desinformierte Volk und seine Gefühle am besten für sich kanalisieren kann. Die Argumente in Diskussionen mit Vertretern dieser Spezies „Boulevardmenschen“ sind immer die gleichen: „ES REICHT MIT DIESER POLITIK“. „SCHLUSS MIT DER EU UND MEHR GELD FÜR UNS“. „ZURÜCK ZUM SCHILLING DAMITS UNS WIEDER GUT GEHT“. Zuverlässig mit Capslock und Rechtschreibfehlern.

Diese Menschen haben aber nicht die Antworten. Sie haben die Illusion, dass irgendjemand sie kennt, der ihnen einen einfachen Sündenbock für komplizierte Probleme liefert. Die EU ist schuld daran, dass wir kein Geld haben – und nicht etwa die Hypo Alpe Adria und korrupte österreichische Politiker. Soweit denkt niemand mehr. Die politische Kultur in diesem Land wird zu Grabe getragen – mit reißerischen Schlagzeilen ohne Mehrwert.

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Daniela Noitz

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Susannah Winter

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fischundfleisch

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