Ok, ok, ok. Zu Silvester passiert immer viel Scheiße. Ich sags jedes Jahr. Es ist die beste Zeit, jemanden ungestraft zu erschießen, weil sich die ganze Welt im kollektiven Ausnahmezustand befindet. Das Knallen irritiert keinen und ganze Städte sind mit Schmauch überzogen. Was jetzt in Köln, Hamburg, Salzburg, Wien (und vermutlich kommen mit der Zeit noch mehr Fälle ans Tageslicht) passiert ist, welche Dimensionen es angenommen hat und welche Grenzen damit überschritten wurden, ist wohl mittlerweile eh allen bekannt.

Deswegen will ich zumindest keine Solidaritätsorgien mit den Opfern abhalten - genausowenig wie mit Paris vor zwei Monaten oder letzten Sommer mit den Flüchtlingen. Oder davor bei jedem anderen aktuellen Thema bei denen Opfer zu beklagen waren. Mit gesundem Menschenverstand und funktionierendem Moralkompass ist das sowieso selbstverständlich und da brauch ich nicht über die sozialen Medien dafür losheulen. Empathielos bin ich, ich weiß.

Ich versuch da mal nüchtern ranzugehen: Es gab massive sexuelle Übergriffe auf Frauen von ganzen Gruppen an Männern. Würde der Medienmob mit der Berichterstattung anders umgehen, wären die Täter nicht vermutete "Männer aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum"? Wahrscheinlich. Und es würde sich wohl auch allgemein nicht so ereifert werden. Obwohl es immer noch passiert wäre. Und auch in guter Regelmäßigkeit passiert. Bei jeder Massenveranstaltung wo Alk fließt, gibt es das und es geht an den Menschen sang- und klanglos vorbei. Allerdings das zu erwähnen ist *räusper* "Kölnrelativierung", weil es noch nie SO war. Ein Riesenhaufen Scheiße bleibt trotzdem immer noch Scheiße.

Aber was wird nun daraus gemacht, da es womöglich Neuankömmlinge im Staat waren? Es wird feixend darauf hingewiesen, dass eine der Befürchtungen der Flüchtlingsgegnern (steigende Kriminalität) ziemlich heftig und punktuell eingetreten ist, während sich die positiven Auswirkungen in überschaubaren Grenzen halten. Was zwar logisch ist, denn Vollintegration als gute, neue Staatsbürger passiert schwerlich in nem halben Jahr, aber das ist für die aufgeheizten Emotionen irrelevant und spielt den Flüchtlingsablehnern einfach nur schön in die Hände.

Es erinnert auch frappierend an Terroranschläge. In Paris schrecklich - in Damaskus interessierts ka Sau. Sexuelle Übergriffe in Köln verdammenswert - Vergewaltigungen in Indien wen scherts? Wenn ich mich recht entsinne, wurde dort auch vom Polizeichef der unglückliche Vergleich der illegalen Wetten mit der Vergewaltigung gemacht, die man nicht verhindern kann und stattdessen genossen werden soll.

Da sind die Ratschläge, die Frauen hierzulande bekommen doch eigentlich recht harmlos und lösen trotzdem reflexartige Shitstorms aus. Ich bin mir sicher, "eine Armlänge Abstand" wird neues Unwort des Jahres.

Davon einmal abgesehen - weil mit ziemlicher Sicherheit nicht einhaltbar, wenn dir wer an die Wäsche will - eigentlich recht vernünftige Vorschläge, die sich im Grund mit "Lieber sicher als vergewaltigt" zusammenfassen lassen. Und trotzdem kriegen die alle ihr Fett weg. Jetzt kommen nicht nur Feministen und solche, die sich jetzt profilieren wollen, welche zu sein, sondern eigentlich Menschen sämtlicher Couleur daher und meinen: "Jetzt erst recht!" Man solle doch bitte lieber Verhaltensregeln an die bösen Männer vulgo Vergewaltiger ausgeben, nicht zu vergewaltigen. Gibt's schon: nennt sich Gesetz. Und der Witz an der Sache ist der, dass es Leute gibt, die es trotz der Existenz des Gesetzes und der möglichen Konsequenzen daraus machen. Denen ist das nämlich Nüsse.

Und genau daraus entstand auch schon vor diesen Taten die "Selbst Schuld"-Debatte. Gehe ich als Frau leicht bekleidet und besoffen nachts aus einem Club heim, kann ich meine Hirnwindungen soweit anstrengen, mir vorzustellen, es gibt da draußen Arschlöcher, die die Situation ausnützen können, wollen und werden und mach vielleicht nicht einen auf "YOLO" und lieg dann verprügelt und vergewaltigt im Park mit "Aber ich war doch im Recht... und die Moral war auch auf meiner Seite!"

Bin ich extrovertiert schwul und will den klischeehaften Lifestyle ausleben, bin ich intelligent genug es nicht zu machen, wenn ich zufällig auf eine Horde homophober Neonazis treff. Denn denen is das wurscht, ob es gesellschaftliche Gleichberechtigung gibt und Homosexualität nicht mehr als Abartigkeit gilt.

Will ich nicht, dass bei mir eingebrochen wird, lass ich nicht die Tür unversperrt oder gar sperrangelweit offenstehen, wenn es grad eine beispiellose Einbruchsserie gab, weil "Jetzt erst recht!" Sagt doch bitte den Einbrechern, sie sollen nicht einbrechen und nicht mir, wie ich meine Wohnung besser zu schützen habe!

Klar, Recht muss vor Unrecht nicht weichen. Aber Klugheit sollte es vor Hochmut auch nicht. Genau deswegen wurde den Frauen jetzt angeraten, sich vorsichtiger zu verhalten, lieber ein Taxi zu nehmen, nicht allein unterwegs zu sein und bla bla... Um die Chancen zu verringern, dass es erneut zu solchen Übergriffen oder gar noch schlimmeren kommt. Vielleicht sollte man prinzipiell eine gewisse Umsichtigkeit walten lassen und mit offenen Augen durchs Leben gehen, als Mann, als Frau, immer und überall. Aber man geht ja lieber davon aus, dass scho nix passieren wird. Man kann nie alles vorhersehen, deswegen passieren auch Vergewaltigungen in ruhigen Gemeindebauhöfen und Raubüberfälle auf Einkaufsstraßen am hellichten Tag, aber zumindest Gefahren abschätzen.

Frage zum Schluss: Werden mir als Mehrheitsmann (weiße Hautfarbe, ethnisch inländischer Staatsbürger, keiner Minderheit wie etwa Homosexuellen oder körperlich oder geistig Behinderten zugehörig, etc...) von ner Gruppe angesoffener Typen die Zähne ausgeschlagen, weil ich einen von denen angerempelt hab, die Typen ihre gerechte und rechtliche Strafe bekommen, und mir jemand, obwohl ich komplett unschuldig zum Handkuss kam, neben allen Beileidsbekundigungen sagt: "Warum bist denen nicht ausgewichen, du Depp?! Doch offensichtlich, dass die auf Streit auswaren!" - is das dann auch Victim Blaming? Oder hätt ich dafür auch noch vergewaltigt werden müssen?