Rumänisches Parteienunbehagen – Beispiel: Liberale

Seit zwei Wochen ist das Kabinett von Dacian Cioloș nun im Amt und Würden. In einem sehr seltenen, gemeinsamen Kraftakt haben alle politischen Kräfte Rumäniens sich dazu durchgerungen, diese unabhängige Expertenregierung mehr oder weniger bedingungslos mit ihrem Vertrauen auszustatten. Alle? Nein, nicht alle! Die liberale Partei der Allianz Liberaler und Demokraten (Partidul Alianța Liberalilor și Democraților / ALDE) – seit wenigen Tagen Vollmitglied des gleichnamigen EU-Parteienverbandes – hat praktisch als einzige politische Kraft angekündigt, in Totalopposition zu gehen. Aus diesem Anlass und weil gestern Rumäniens Nationalfeiertag war, ein paar Gedanken zum politischen Liberalismus im Lande der Karpaten.

Wer immer sich in Rumänien als „liberal“ definiert, beruft sich gern auf eine 140jährige Tradition: Als eine Art Nachbeben der 1848er-Ereignisse war es einer Hand voll geschickter und kluger Köpfe in den Fürstentümern Moldau und Walachei Mitte des 19. Jahrhunderts gelungen, mit der Unterstützung eines Teiles der europäischen Großmächte den rumänischen Staat zu gründen. Unter den Bojaren[1], die diese Politik seinerzeit getragen hatten, kristallisierte sich die Brătianu-Familie (samt Verwandtschaft) als führend heraus. Über mehrere Generationen hindurch waren ihre Vertreter prägend für das rumänische Staatswesen. Und die Brătianus waren die Chefs der 1875 gegründeten Nationalliberalen Partei (Partidul Național Liberal / PNL). Ion C. Brătianu war der erste von insgesamt fünf Parteivorsitzenden selben Familiennamens bis zur ersten Auflösung[2] der Partei Ende der 1930er-Jahre.

1944 bis 1947 konnten die Nationalliberalen vorübergehend wieder ihre Tätigkeit aufnehmen, ehe sie vom frisch installierten kommunistischen Regime verboten wurden. Erst nach dem Sturz der Ceaușescu-Herrschaft 1989 wurde die PNL wieder neu gegründet und hat als einzige „neu-alte Partei“ die chaotischen 25 postrevolutionären Jahre bis zum heutigen Tag überlebt. Die Annährung der PNL an die internationalen liberalen Dachverbände erfolgte umgehend und wurde, nach einiger Zeit im Beobachterstatus, 1999 durch die Aufnahme als Vollmitglied in der Liberalen Internationale (LI) gekrönt. Der nächste Höhepunkt war 2004 bis 2008 die Regierung unter Călin Popescu Tăriceanu, als die PNL zum ersten Mal seit der Zwischenkriegszeit wieder den Premierminister stellte. Es war eine Zeit, die vielen Menschen in Rumänien bis heute positiv in Erinnerung ist, weil Tăriceanu und sein Kabinett überwiegend nachvollziehbare Reformen in die Wege leiteten, weil sich damals auch erste zaghafte Früchte der Reformen gezeigt hatten[3], und (auch) weil diese Regierung noch vor der Wirtschaftskrise im Amt war.

Magnetwirkung der erfolgreichen, starken PNL

Das zeitgleiche Verschwinden der ebenfalls „neu-alten“, Nationalen Christdemokratischen Bauernpartei (Partidul Național Țărănesc – Creștin Democrat / PNȚ-CD) in der Bedeutungslosigkeit und der Untergang anderer nicht-sozialisitscher Bewegungen (bis weit an den rechten[4] Rand des Spektrums) trug dazu bei, dass eine Vielzahl kleiner und mittlerer Funktionäre in die PNL eintraten, weil sie in ihr die letzte verbliebene Partei des „rechten“ Spektrums sahen. Etwa zu jener Zeit begannen auch die – parteiintern nicht immer nur hinter vorgehaltener Hand geführten – Debatten über ein Verlassen der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) und der LI zugunsten eines Beitritts zur Europäischen Volkspartei (EVP).

Noch bevor sich die Bewegung ein modernes liberales und dem beginnenden 21. Jahrhundert entsprechendes Selbstverständnis aneignen konnte, wurde dieses also bereits von innen heraus aufgeweicht. Den vorläufigen Abschluss fand dieser Prozess schließlich durch den nach den letzten EU-Wahlen vollzogenen Übertritt der PNL zur EVP. Um das Projekt einer großen Mitte-Rechts-Partei[5] umzusetzen, hat die PNL sogar mit der Demokratisch-liberalen Partei (Partidul Democrat-Liberal / PD-L) fusioniert, obwohl jene Gruppierung die direkte Nachfolgerin der Nationalen Rettungsfront (Frontul Salvării Naționale / FSN) war, die ihrerseits in den Dezembertagen 1989 als reformkommunistisches bzw. gemäßigt sozialistisches Projekt gegründet worden war.[6]

Tăriceanu macht nicht mit

Der nach dem Ende seiner Regierungszeit parteiintern 2008 zur Seite gedrängte Călin Popescu Tăriceanu hat sich von Beginn an der Annäherung sowohl an die EVP, als auch an die PD-L kategorisch widersetzt. Als einziger unter den Spitzenpolitikern außerhalb der Sozialdemokratie hat er bis zum heutigen Tag eine strikte Abgrenzung zum europäischen christdemokratischen Parteienverband, den unter anderem auch der ehemalige Staatspräsident Traian Băsescu (ein „Erzfeind“ von Tăriceanu) vertritt, praktiziert. Folgerichtig war daher auch seine Loslösung von der PNL und die Gründung der neuen, international verankerten liberalen ALDE. Doch neben ihm und einer handvoll Ex-PNL-Funktionären, die den Schwenk zur EVP nicht mitmachen wollten, bildet auch die ehemalige Humanistische (später „Konservative“) Partei (PC) einen Teil der neuen ALDE. Diese vom Oligarchen Dan Voiculescu[7] ins Leben gerufene Gruppierung diente der Sozialdemokratischen Partei (Partidul Social Democrat / PSD) jahrelang als Anhängsel und Mehrheitsbeschaffer.

Als die PNL das vor nur wenigen Jahren eingegangene Wahlbündnis mit der PSD, die Sozial-Liberale Union (Uniunea Social-Liberală / USL) einseitig aufkündigte, waren Tăriceanu und sein engster Vertrautenkreis nicht damit einverstanden. Mit der ALDE führte er das Bündnis, dem sich auch die obskure Nationale Union für den Fortschritt Rumäniens (Uniunea Națională pentru Progresul României / UNPR) angeschlossen hatte quasi als „USL 2.0“ fort. Unter der Leitung von Victor Ponta (PSD) amtierte diese Koalition den Umständen entsprechend solide. Doch die hausgemachten Skandale rund um den Premierminister[8] und andere führende Kabinettsmitglieder – wie etwa Vizepremier Gabriel Oprea[9] (UNPR) – beeinträchtigten die Performance erheblich und führten Anfang November, verstärkt durch den nachvollziehbaren Zorn großer Teile der Bevölkerung in Reaktion auf die Brandkatastrophe im Bukarester Club Colectiv[10], zum Rücktritt Pontas und seines Kabinetts. Die daraufhin eingesetzte Übergangsregierung stand unter der Führung des ALDE-Ministers Sorin Câmpeanu. Doch unter dem Eindruck der Proteste und unter Hinzuziehung von Vertretern der Zivilgesellschaft zu Beratungsgesprächen beauftragte Staatspräsident Klaus Johannis[11] innerhalb weniger TageDacian Cioloș[12] mit der Bildung einer unabhängigen Expertenregierung.

Cioloș legte dann wie Johannis ein überaus rasches Tempo vor und konnte am 17. November nach nur wenigen Verhandlungsrunden sein Kabinett einer Vertrauensabstimmung im Parlament unterziehen, die dieses mit überwältigender Mehrheit gewinnen konnte. Noch kurz davor, bei den parlamentarischen Hearings der Ministerkandidaten, hatte ALDE-Justizsprecherin Steluța Cătăniciu die vorgeschlagene Kandidatin für das Amt der Justizministerin Cristina Guseth wegen absoluter Kompetenzlosigkeit vor laufenden Kameras geradezu demontiert. Guseth wurde danach – trotz positivem (!) Avis der Justizkommission – rasch von Cioloș ausgetauscht. Das ALDE-Urteil über die Zusammensetzung des Kabinetts fiel vernichtend aus: Nicht nur Guseth, auch anderen Ministern wird Kompetenzmangel vorgeworfen. Vor allem aber, so die offizielle ALDE-Argumentation, hätte die Vereidigung des Expertenkabinetts die Demokratie ausgehebelt, weil diese Regierung nicht durch politische Verhandlungen zustande gekommen sei. Kritisiert wird an den neuen Ressortchefs auch, dass durch sie die Gefahr eines zu hohen Einflusses ausländischer Interessen herrsche, weil das Gros der Minister zuvor in internationalen Institutionen (EU-Kommission, Internationaler Währungsfonds, Weltbank etc.) gearbeitet habe.

Alles andere als eine Bürgerbewegung

Die ALDE stellt sich also als einzige der Parlamentsparteien entschlossen gegen das Expertenkabinett, welches als Antwort auf die Forderungen der überwiegend von jungen Menschen, Studierenden und zum Teil Intellektuellen getragenen Massenkundgebungen eingesetzt wurde. Die ALDE stellt sich außerdem – Seite an Seite mit der Ungarnunion[13] – gegen die Wahlrechtsreform, die Auslandsrumänen in Reaktion auf die Proteste im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl 2014 die Beteiligung an Wahlen erleichtern möchte. Die ALDE ist demnach keine Bürgerbewegung sondern der Inbegriff einer Partei, die aus dem System entstanden ist, im System funktioniert und bis zu einem gewissen Grad daher auch das System verteidigen muss. Aus dieser Not macht sie eine formaljuristische Tugend und betont die im Grunde selbstverständlich korrekte Tatsache, dass in einer Parteiendemokratie eben die parlamentarischen Gruppierungen die Volksvertretung darstellen und nicht eine wie auch immer zusammengesetzte und sich chaotisch artikulierende „Zivilgesellschaft“. Dieser Logik folgend war auch die ALDE-Kritik an Staatspräsident Johannis scharf, als er zu den Konsultationen für die Bildung der Expertenregierung neben den Parlamentsparteien erstmals auch Vertreter von NGOs und Bürgerinitiativen hinzu zog. Kurz: Die ALDE verfolgt in diesen Auseinandersetzungen einen Standpunkt, der zwar nachvollziehbar, seriös und konsequent ist. Er verunmöglicht aber jedwelche Möglichkeit der konstruktiven Kommunikation zwischen der liberalen Partei und dem überwiegenden Teil des jungen, urbanen und gebildeten Bürgertums und trägt auch nicht eben zur Beliebtheit der ALDE in diesem Segment der Bevölkerung bei.

Es gibt um den alten Politfuchs Tăriceanu fachkompetente Leute wie Sorin Câmpeanu[14] oder Steluța Cătăniciu, international-liberal erfahrene Funktionäre wie Cristian David[15], integre Bürgerrechtsliberale wie Renate Weber[16] und wirtschafts- und finanzpolitisch kompetente Politiker wie Daniel Chițoiu[17]. Doch neben diesen sammeln sich auch allerhand Personen, die allein die Gegnerschaft zu allen anderen Parteien eint. Die PC, mit der Tăriceanu die neue ALDE gemeinsam gebildet hat, veranstaltete noch vor bloß ein paar Jahren „Anti-Gay-Pride-Demos“. Auch offen nationalistische Töne sind aus ALDE-Kreisen gelegentlich vernehmbar. Der ehemalige Bildungsstaatssekretär Vasile Şalaru wollte die rumänischen Schülerinnen im Unterricht dazu erziehen, sich wieder erotischer zu bewegen. Sie müssten wieder klassische Tänze beherrschen und mit hohen Absätzen gehen können. Er wurde zurückgepfiffen und musste von seinem Amt zurücktreten. – Der Anteil jener, denen an der liberalen Parteiprogrammatik wirklich etwas liegt, beläuft sich mit Sicherheit auf erheblich weniger als die Hälfte.

Liberale Zukunft

Es ist unbestritten, dass Tăriceanus Initiative zur Rettung des (partei)-politischen Liberalismus in Rumänien wichtig und unter den gegebenen Umständen am besten durch die Fusion mit der PC und die Gründung der ALDE umzusetzen war. Durch die Übernahme der PC-Strukturen verfügt die neue Partei auch über die nötige Infrastruktur, eine Jugendorganisation und Räumlichkeiten in der Provinz, was üblicherweise bei Parteineugründungen nicht der Fall ist und daher oft ein großes logistisches Problem darstellt. Ob es den Liberalen in der ALDE gelingen wird, sich gegen ideologische Beliebigkeit und populistische Strömungen zu behaupten, wird die Zukunft zeigen. Eine nicht unwichtige Rolle wird dabei weiterhin die mit der Friedrich-Naumann-Stiftung zusammenarbeitende ALDE-Parteiakademie „Institut für Liberale Studien“ spielen.

In der momentanen Entwicklung der Parteienlandschaft kommt der ALDE jedenfalls zugute, dass es auf dem liberalen Sektor keine ernstzunehmende Konkurrenz gibt. Die Protestbewegung von Anfang November, die sich teilweise urliberale Forderungen zueigen gemacht hatte, verfügte über keine koordinierten Strukturen und ist früher als erwartet im Sand verlaufen. Einzelne liberale Initiativen gibt es zwar, doch sie haben eher den Charakter intellektuell-akademischer Stammtische und offensichtlich keine parteipolitischen Ambitionen. Vereinzelt gibt es auch in anderen Parteien liberale Stimmen: Nicușor Dan[18] in Bukarest kann als Hoffnungsträger für liberale Menschen außerhalb der Parteien gesehen werden. Im sogenannten „linksliberalen“ Bereich muss auch Remus Cernea von den rumänischen Grünen[19] hier Erwähnung finden, der neben ökologischen Themen immer wieder auch gesellschaftspolitisch liberale Themen besetzt. Darüber hinaus befinden sich auch in der neuen PNL weiterhin Menschen, die in gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen[20] im Zweifel noch zu liberalen Reformansätzen tendieren. Eine Sonderrolle nimmt die UDMR ein, in der es ebenfalls ein starkes liberales Potential gibt. Diese Formation wird jedoch in aller Regel fast nur von Mitgliedern der magyarischen Minderheit gewählt.

Alles in Allem war die strategische Entscheidung, in Totalopposition zu der Quasi-Großen-Koalition zu gehen aus ALDE-Sicht bestimmt richtig. Bis zur nächsten planmäßigen Parlamentswahl wird nicht mehr viel Zeit vergehen und es sieht (leider) nicht danach aus, als könnte sich aus der Novemberprotestbewegung noch so etwas wie eine wählbare politische Gruppierung bilden. Vielleicht war es also gerade der perfekte Moment für die ALDE, sich als „einzige Alternative“ zu präsentieren und die schwache inhaltliche Rechtfertigung für diesen Schritt fäll kaum ins Gewicht? – Am Verhalten ihrer Repräsentanten im parteipolitischen Alltag Rumäniens wird zu messen sein, in welche Richtung der Zug für die ALDE fährt. – Für die rumänischen Liberalen gilt jedoch wie eh und je: Work in progress!

Stefan Bichler

PS: Ähnliche Beiträge ließen sich unter leicht abgewandelten Titeln (etwa „Rumänisches Parteienunbehagen – Beispiel: Christdemokraten“ oder „Rumänisches Parteienunbehagen – Beispiel: Sozialdemokraten“) problemlos auch über die anderen wichtigen politischen Gruppen verfassen!

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Links, Quellen und weitere Infos:

-ALDE (Rumänien): www.alde.ro

-Călin Popescu Tăriceanu: www.tariceanu.ro

-Institut für Liberale Studien: www.isl.ro

-Friedrich-Naumann-Stiftung (Rumänien): www.freiheit.org/content/rumaenien-1

-Renate Weber: www.renateweber.eu

-PSD: www.psd.ro

-PNL: www.pnl.ro

-UDMR: www.udmr.ro

-UNPR: www.unpr.eu

-Remus Cernea: www.remuscernea.ro

-Nicușor Dan: www.nicusordan.ro

-Rumänischer Staatspräsident: www.presidency.ro

-1. rumänische Parlamentskammer: www.senat.ro

-2. rumänische Parlamentskammer: www.cdep.ro

-Rumänische Regierung: www.gov.ro

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