Ich sitze in Ito, einer kleinen Hafenstadt in Japan, nach einer Woche Tokio hat es mich hierher verschlagen. Es ist brütend heiß, selbst die kurzen Platzregenschauer sorgen hier nicht, wie ich es vom Sommer in meiner Heimat gewohnt bin, für die erwartete Abkühlung, ganz im Gegenteil, man hat das Gefühl, die erhöhte Luftfeuchtigkeit treibt die Temperatur noch zusätzlich in die Höhe.

Und ich kann davon erzählen. Nicht nur einer Person, sondern vielen zugleich und ich muss nicht erst Postkarten schreiben, Briefpapier kaufen und Briefmarken aufkleben, nicht erst zum Telefon greifen, kein Flieger, kein Schiff, kein Bote muss sich in Bewegung setzen. Die Heimat, so scheint es, ist gleich ums Eck, man öffnet einen Internetbrowser, ganz gleich ob auf einem der hiesigen Standrechner oder auf dem mitgebrachten Mobiltelefon und da ist sie: die Heimat. Und mit ihr die ganze Welt.

Am 30. Juli feierte das Badehaus, in dem ich wohne, ein Jubiläum: die Gäste wurden abends eingeladen, gemeinsam zu essen, zu trinken und zu feiern: man reichte japanische Gerichte, allen voran Okonomiyaki (eine hiesige Form von Pfannkuchen), doch auch Nudeln, Sushi, Sake. Man saß ausgelassen beisammen, neben uns auch Engländerinnen und Engländer, Däninnen und Dänen, Schweizerinnen und Schweizer, auch Taiwanerinnen und natürlich Japanerinnen und Japaner. Man bedient sich des Englischen, es ist am funktionalsten, es bricht am schnellsten das Eis, jeder kann sich zumindest behelfsmäßig ausdrücken. Man lernt sich kennen. Das erste verbindende Element ist die Reise in ein Land in dem (fast) alle Gäste sind: Wo warst du bereits? Wo geht es noch hin? Was hast du gesehen? Was willst du noch sehen? Kannst du mir etwas empfehlen? Ich würde dir raten …

Und dann kommt man dazu: woher kommst du? Man holt sich die Heimat herbei. Und mit ihr gerne auch die Probleme. Denn nur ein Blick auf das Mobiltelefon, auf den Standrechner oder in eine der Zeitungen zeigt erinnert uns rasch daran, was gerade auf der Welt passiert. Denn: die Welt, so scheint es, ist ein Dorf geworden. Ein Tastendruck hier, ein Wischen auf dem touchscreen, und wir haben, was wir brauchen: Bilder von Flüchtlingen, von Terroranschlägen, von enttäuschten Gegnern und frenetisch jubelnden Anhängern eines EU-Austritts. Und, und, und …

Und wir meinen zu wissen: diese Engländer, jetzt haben sie, was sie wollten, jetzt sind sie endlich draußen aus der EU! Recht geschieht ihnen! Und ich sitze hier in Japan und höre, wie Engländerinnen und Engländer sich sorgen, die eben NICHT mit dieser Entscheidung einverstanden waren, und ich lese von Terroranschlägen und davon, dass alle Musliminnen und Muslime eigentlich Terroristen und gar nicht auf der Flucht, sondern gekommen sind, uns zu vernichten und gleichzeitig durfte (ja, durfte!!) ich ein Jahr lang mit Flüchtlingen Deutsch lernen und sie begleiten (natürlich nicht alleine, der Löwenanteil bei dieser Aufgabe, mit der zu rühmen mir nicht einfällt, angesichts seiner Beiläufigkeit, gebührt zweifellos anderen, Freundinnen, Freunden, Kolleginnen und Kollegen) und nie und nimmer war diesen Kindern daran gelegen, irgendjemanden in meinem Land zu vernichten oder ein Leid anzutun – und oft ernte ich erstaunte Blicke, wenn ich davon erzähle.

Und die Fenster meines Internetbrowsers zeigen mir Freunde auf der ganzen Welt, unter anderem aus Syrien, die in Österreich Fuß zu fassen versuchten und enttäuscht wieder abreisen mussten.

Ja, es scheint so, als wäre die Welt ein Dorf geworden. Wir alle sitzen an unseren Fenstern und blicken hinaus und wir meinen genau zu wissen, was die anderen da draußen tun. Doch: wissen wir es?

Gäbe es in der Geschichte der Welt einen endlosen Sandstrand und die Menschheit würde ihn entlangspazieren, hinterließe sie zweierlei Spuren: die der Wissenschaft, egal in welcher Form, der Realisierung des Über-sich-Hinauswachsens, des gezielten, herbeigeführten Wachstums, des Grenzen-Sprengens nach Außen hin. Und daneben jene der Kunst und der Kultur, jener Entfaltung die im tiefsten Inneren, aus dem wir sie hervorholen, ihren Anfang und Ursprung findet. Dergestalt (und nur so) unterscheiden wir uns vom Tier, denn töten und morden, kann das Tier auch, mit dem einzigen Unterschied: anders als der Mensch, ist das Tier darauf angewiesen, will es nicht sterben. Dem Menschen bringt der Tod seiner Mitmenschen überhaupt nichts, außer, dass er noch mehr Tod und Leid und Hass und (zusammengefasst) noch viel mehr Unmenschlichkeit hervorbringt. Denn kann ich erwarten, dass jene, die ich als „Feinde“ niedermetzle nach all den Grausamkeiten, die sie erfahren haben, sofern ich sie nicht völlig ausrotte, mir verzeihen? Rache provoziert zumeist nur eines: neue Rache.

Was zu beobachten ist, auch hier sprachen wir bereits darüber, ist eine, entweder sakrale oder weltliche (manchmal auch auf bizarre Weise miteinander verwobene) Hinwendung zu einem „starken Mann“, wie immer der auch aussehen mag. Manch einer verbeißt sich hierbei in die aggressiv-offensive Huldigung eines Gottes, woraufhin sich mir stets folgende Frage stellt: wenn der Gott, das höhere, allmächtige Wesen, dem ich mein Leben widmen möchte (und das ist jedes Menschen gutes Recht, wie wohl ICH persönlich mit solchen Hinwendungen nicht immer etwas anfangen kann) allmächtig und allgütig und gerecht ist und ich daraus Gewinn für mich selbst ziehe, wieso muss ich anderen Menschen derartige Empfindungen und Ansichten AUFZWINGEN? Das widerspricht, in meinen Augen, jedweder Logik: sollte ich geistigen Gewinn und Erfüllung aus meinem Glauben beziehen, muss diese Glückseligkeit doch selbstlaufend ansteckend werden und meine Mitmenschen befeuern, ganz unabhängig davon, was ein Priester oder Prediger mir sagt. Glaube ist etwas derart komplexes, individuelles, aus dem man, so zumindest glaube ich es verstanden zu haben, großes Glück, Kraft und Stabilität gewinnen kann. Aber inwiefern kann er Erfüllung bringen, wenn es notwendig ist, dass ich andere Menschen damit „zwangsbeglücken“ muss? Woraus kann Erfüllung erwachsen, wenn ich jene hassen muss, die meinen Glauben nicht teilen? Sollte dieser Glaube nicht stark genug sein, dass er über dem steht, was „Ungläubige“ über ihn sagen?

Und wenn es sie alle nicht gibt? Keinen Gott, keinen Allah, keinen Buddha? Wenn wir nach dem kurzen Flackern, das wir Leben nennen, zu dem Nichts werden, aus dem aufgetaucht sind? Warum müssen wir uns dann dieses Bisschen Schönheit, Freude, Hoffnung und dieses Fragment der Ewigkeit zertrümmern, zerfetzen, zerstören und es ausbluten? Wenn es alles ist, was wir haben, muss es unser teuerster Besitz sein. Schade um unser schönes Leben! Schade um die schöne Welt!

Daneben gibt es jene, die sich nach einem weltlichen „starken Mann“ sehnen. Vielleicht nicht einmal zwingend nach einem „Führer“, was als Schlagwort seit einer der blutigsten, schreckenerregendsten Epochen der jüngsten Geschichte immer wieder durch das kollektive Bewusstsein geistert, sondern vielleicht steckt dahinter gar der naive Wunsch nach einer übermächtigen, gerechten Vaterfigur: ein großer, gütiger, weiser König Artus, dessen Streben und Wirken Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die Lande dieser Welt bringt. Bloß: all diese Figuren (und als solche wollen sich viele der „starken Männer“ auf politischen Bühnen gerne inszenieren) sind im Grunde ihres Wesens (und das mag ihrer Fiktionalität geschuldet sein) unfehlbar. Und insofern ist jede Führung durch ein Individuum, einen „starken Mann“, zum Scheitern verdammt, da eine absolute Gerechtigkeit, eine Unfehlbarkeit, niemals durch die Kompetenz eines einzelnen Individuums erlangt werden kann. Insofern ist niemand unfehlbar. Den Ansprüchen, die wir an eine fiktive Erlöserfigur stellen, kann ein realer Mensch niemals gerecht werden, auch, wenn er sich selbst gerne so darstellt.

Darüber hinaus arbeiten viele von ihnen mit Angst und Hass – was starke Motivatoren für eine Unterstützung einer solchen Leitfigur sein mögen, bloß: sollten die Versprechungen, die im Endeffekt ja darauf abzielen, diese Angst zu beseitigen, scheitern, wird der Hass (selbst eine eigentümliche, mit hoher Eigendynamik versehene Energiequelle) sich verselbstständig, weshalb ich es als überaus gefährlich erachte, mit Hass zu operieren, um die eigene (politische) Position zu bestärken. Es ist ein Ausnutzen momentaner Schwäche, wodurch man Menschen zwar vielleicht temporär locken kann, sobald aber die Heilsversprechen einmal versandet sind, was mit vielen von ihnen, sobald man sie auf harte Fakten überprüft, zwangsläufig geschehen muss, bleibt nur eines zurück: der blanke Hass, der zuvor geschürt wurde. Und neben ihm die Angst. Und als Geisel dieser beiden Empfindungen wird der Mensch zu einem reduziert: zu einem Tier in der Falle, das sich nicht mehr aussieht, das zuschnappt. Oder besser gesagt: zuschlägt. Denn was bleibt ihm übrig, wenn er jeden Tag hört, wie schrecklich diese Welt ist und wer ihn nicht aller bedrohen und auslöschen möchte? Natürlich macht das Angst – manch einen ängstigt es vielleicht sogar zu Tode.

Und was viele Menschen dieser Tage eint ist Angst. Sie tritt in vielerlei Formen auf: manchmal schemenhaft, in kleinen Sorgen, die uns im Alltagsstress plagen, manchmal als dunkle Schwaden großer Depressionen, die einen heimsuchen, weil man glaubt, die Welt um uns müsste jeden Augenblick implodieren. Und auch die Angst voreinander: dass es ein „wir“ und ein „die anderen“ gibt. Und vielleicht mag ein „starker Mann“ (egal, ob er nun sakral oder profan sein mag) nun Halt und Einigkeit versprechen, indem er davon ausgeht, hier stehen „wir“, was gemeinhin heißt „hier stehen die Guten“ und dort stehen „die anderen“, was durchaus als „die Bösen“, zumindest aber als „jene, die im Unrecht sind“ verstanden werden mag. Doch: so einfach ist das bei weitem nicht. Bloß, um das zu begreifen, wäre es eben nötig, mit so vielen Menschen da draußen zu sprechen. Sie kennenzulernen. Sie verstehen zu lernen. Und auch zu lernen (und zu fühlen), wie es ist, selbst verstanden zu werden. So könnten wir miteinander sprechen und unsere Ängste, die uns zu Kreaturen der Brutalität degradieren, lindern.

Denn dies, ginge die Menschheit an einem endlosen Strand entlang, wäre eine weitere Spur, die sie hinterlassen könnte: jene des Wortes. Vor dem man sich auf kaum einem Winkel dieser Welt mehr verstecken kann. Und mit ihm all die Erinnerungen.

Kein Gott und kein König, kein Führer und kein Herrscher, sondern da wie dort: Menschen. Denn wer sich selbst treu bleibt und sein Leben lebt und andere behandelt, wie er selbst behandelt werden möchte, der kann eigentlich nichts falsch machen. Bloß erwarten so viele Menschen, die bloß noch den kleinen Happen täglicher Vorurteile ausgeliefert sind, dass wir glauben, alle anderen zu kennen. Und zu wissen, wie alle anderen sich verhalten MÜSSTEN, damit alles wieder „in Ordnung“ ist. Dies gilt nicht nur für dieses Land. Es gilt für die ganze Welt.

Ich mag aber (noch) nicht verzweifeln und es mir als schönes Bild denken: wir sitzen dann tatsächlich am Lagerfeuer, sind zusammengerückt, am Hauptplatz eines Dorfes, das wir Welt nennen. Sollte es ein-, müssten wir ins Nichts stürzen. Da fängt uns kein starker Mann mehr auf, wir würden ihn mitreißen. Wir sitzen um den Nabel des Dorfes. Wir könnten uns die Hand reichen. Nicht zu wissen glauben, wie der andere tickt, weil wir es irgendwo gesehen oder gehört haben, sondern ihm oder ihr die Hand reichen und sagen: „Hallo. Grüß dich! Hello! Ciao! Namaste! Konnichi wa! Salem aleikum! Wer bist du? Wie geht es dir? Wovor hast du Angst? Und was hoffst du?“

Auf dass wir einander kennenlernen, dass wir wieder lernen, uns zu kennen. Und man mag es träumen: dass wir alle Königinnen und Könige dieser Welt werden. Weil es unser aller Dorf ist, unser aller Heimat.

Ich bin ein Bürger der Erde!

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Margaretha G

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