Mitten auf der Brücke saß er, in Lederhosen gekleidet. Er hatte mittellanges, verfilztes graues Haar, ein Pappschild mit der Bitte um Spenden und stecks eine selbstgedrehte Kippe im Mundwinkel. Mehrmals die Woche gab ich ihm meine Pausenbrote. Meistens schon vor der Schule. Und obwohl wir niemals gesprochen hatten, kannten wir uns.
Unglaubliche 14 Jahre ist es, dass ich erstmalig vom S-Bahnhof kommend über die Warschauer Brücke lief und dann links in Richtung Berghain abbog. Es ist schon kurios, dass ich etwa 300 Meter von dem Club zur Schule ging, der für seine derben Partynächte und als bester (Techno-)Club der Welt bekannt wurde.
Die Zeit zwischen 7. und 13. Klasse verbrachte ich zu einem großen Teil in der Nähe des Bahnhofs. Ich kenne sein altes Gebäude, habe miterlebt wie an der Ecke Revaler/Warschauer Straße ein Dönerladen nach dem anderen seine Neueröffnung feierte, inzwischen sogar „Der Gerät“ besitzt und laufe seit Jahren über die provisorische Brücke zwischen Bahnsteigen und der Warschauer Straße.
Seit jeher mochte ich das alte Gelände des „Reichsbahnausbesserungswerkes“, dessen Namen wohl niemand kennt und sich eher seiner Kurzform „RAW“ bedient, sehr. Hier trafen sich im Sommer 2010 tausende Fußballfans im 11 Freunde WM-Hauptquartier und jubelten die deutsche Elf auf Platz 3. Bis heute gilt das Gelände als Freiraum für Kreative und geniale Partylocation. Clubs wie das Cassiopeia oder Suicide Circus haben längst Kultstatus erlangt. Und während man beim sonntäglichen trödeln auf dem RAW Flohmarkt das eine oder andere Schnäppchen ergattern kann, können Kletterfans auf dem Kegel oder Skater in einer Indoorhalle ihre sportlichen Hobbys austoben. Selbst Freunde guter Getränke oder veganer Genüsse kamen bis vor kurzem in der Foodhalle „Neue Heimat“ auf ihre Kosten.
Die Gegend um den Bahnhof war zugegebener Maßen noch nie besonders ruhig und auch noch nie besonders nobel. Doch die letzten Entwicklungen sind besorgniserregend. Während ich früher im jungen Oberschulalter ganz unbeängstigt die Revaler Straße entlang ziehen konnte, werde ich heute ohne Skrupel auf Drogen angesprochen. Ganze Gruppen schwarzer Männer in Kapuzenpullovern ziehen durch die Straßen und verkaufen Marihuana, Haschisch und Kokain. Kommt die Polizei, verschwinden sie in allen Himmelrichtungen, um nach sich nach wenigen Minuten wieder in der Revaler Straße zu versammeln. Die Polizei wirkt machtlos. Die Situation erinnert immer mehr an die vom Bahnhof Görlitzer Park, an dem man schon fast genötigt wird Drogen zu kaufen.
Einige Medien sprachen schon Reisewarnungen für Touristen aus, nachdem Jennifer Rostocks Begleitung vor etwa 6 Monaten bei einem Raubüberfall angegriffen und lebensgefährlich verletzt wurde. Mit einem Messer schnitten die Täter dem männlichen Begleiter der Sängerin den halben Hals auf. Und das nur, weil er seine Kette nicht hergeben wollte. Einige Tage zuvor wurden niederländische Touristen angegriffen.
Zu den Drogendealern und Banden gesellen sich immer mehr Diebe. Ungefähr fünf Jahre arbeitete ich wenige hundert Meter von der Revaler Straße entfernt in einer Bar. Auch dort wurden wir immer häufiger Zeugen von Taschendiebstählen.
Der rechte Mob nutzt diese Entwicklungen für neue Parolen gegen Fremdenfeindlichkeit. Widerlich.
Und doch muss die Lage im Auge behalten werden, die Polizeipräsenz erhöht und für mehr Sicherheit gesorgt werden, damit auch die Schüler von morgen ohne Angst die Revaler Straße passieren können.