Auf der Überfahrt zur Insel Limnos in der nördlichen Ägäis Griechenlands taucht nach einigen Minuten neben dem Boot ein Delphin auf. Es ist das erste Mal, dass Claudi einen Delphin in freier Natur sieht. In greifbarer Nähe schwimmt er neben und vor dem Boot. Die Passagiere greifen zu ihren Handys und Kameras und halten diesen einzigartigen Moment fest. Ein Kameraschwenk lässt einen Blick auf Claudi und die anderen Passagiere des Bootes zu: Junge Menschen in luftiger Bekleidung mit Sonnenbrillen und Bierdosen genießen die Bootsfahrt. Doch sie setzen nicht nach Limnos über, um Urlaub zu machen. Sie reisen, um zu arbeiten.
In den folgenden Tagen wird auf der Insel ein Treffen von 55 Digitalen Nomaden stattfinden. Die jungen Unternehmer wollen sich bei diesem Coworking gegenseitig inspririeren, an ihren Ideen arbeiten und Projekte voran bringen. Die Bewegung der Digitalen Nomaden vergrößert sich in Deutschland seit über zwei Jahren enorm. Damals fand im Mai 2014 die erste Konferenz für Digitale Nomaden, die DNX, im Betahaus in Berlin-Kreuzberg statt. Junge Entrepreneure und Reiseverrückte entfachten an diesem Tag eine kleine Revolution des Arbeitens. Von Tag zu Tag werden es mehr. Eine der ersten Facebook-Gruppen, die aus der damaligen DNX heraus entstanden ist, hat heute fast 3.500 Mitglieder.
Auch Christian ist Mitglied in dieser Gruppe. Er arbeitet seit Jahren als Motivationstrainer und Texter. Zuletzt hat er für das Berliner Startup Beach-Inspector.com an den Stränden Thailands als Strandtester gearbeitet. So schön der Job als Strandtester auch ist, so richtig ortsunabhängig ist er dann doch nicht, denn als Strandtester muss man sich eben an Stränden aufhalten. Das grenzt den Ort des Arbeitens ein, obwohl es tatsächlich nicht der schlechteste ist.
Eines haben alle Digitalen Nomaden gemeinsam. Ihre Ortsunabhängigkeit ist alleine dem Internet zu verdanken. Um eine gute Internetverbindung zu nutzen und günstige Lebenshaltungskosten zu haben, reisen sie daher vermehrt in Südoastasien. Afrikanische Länder sind wegen der schlechten Internetverbindung oftmals ausgeschlossen. Sie arbeiten als Texter, Autoren, Designer, Kommunikatoren oder Architekten für Kunden aus aller Welt. Die neueste Entwicklung geht jedoch dahin eine eigene Unternehmung aufzubauen und nicht in die Tasche anderer zu wirtschaften. „Passives Einkommen“ gilt in der Szene als Zauberwort. Die Kunst besteht darin ein Unternehmen aufzubauen, das langfristig Geld erwirtschaftet, ohne, dass tägliche Arbeit investiert werden muss. So haben einige der reisenden Onlineunternehmer Onlineshops etabliert, deren Produkte über das Internet bestellt werden. Die Logistik übernimmt in den meisten Fällen Amazon oder ein Logistikunternehmen in der Heimat. Andere verdienen über Buchverkäufe, den Verkauf von Bildern über Bildagenturen oder Empfehlungs-Provisionen ihr Geld. Auf ihren Websites und Blogs empfehlen sie Produkte, an deren Verkäufen sie beteiligt werden. „Affiliate Marketing“ heißt das in Onlinemarketingkreisen.
Marcus und Feli haben ebenfalls mit einem Blog begonnen. Dort haben sie viele Jahre über das Reisen berichtet und Reisetipps gegeben. Inzwischen verkaufen sie das Gefühl des ortsunabhängigen Arbeitens und sind zwei der bekanntesten Branchengesichter. Das junge Paar ist Veranstalter der DNX, wird viel in der Presse erwähnt und hat auch das Coworking-Camp auf Limnos mitorganisiert. Ihr Lifestyle des Kombinierens von Reisen und Arbeiten sorgt deutschlandweit für Bewunderung. Über ihre Konferenzen erzeugen sie ein Bedürfnis, finden viele Nachahmer und etablieren das Arbeiten ohne festen Arbeitsplatz als Job der Zukunft.
Auch Claudi hatte bis Ende letzten Jahres einen festen Arbeitsplatz. Bei Visit Berlin arbeitete sie in der Presseabteilung. Um die Welt zu sehen und mehr Freiräume zu genießen, kündigte sie ihren Job. Inzwischen reist sie um die Welt und arbeitet rund um die Uhr an der Idee einer Nachhaltigkeitsplattform für Berlin. Und das ist gleichzeitig der große Nachteil am Leben eines Digitalen Nomaden. Sie reisen zwar viel um die Welt, aber richtigen Urlaub haben sie nie. Solange jedenfalls nicht, bis das gegründete Unternehmen ausreichend passives Einkommen abwirft und die von Tim Ferris so gehypte 4-Stunden-Woche endlich Realität wird. Doch bis dahin ist es ein harter Weg.