Ich absolvierte als einer der letzten Jahrgänge den Zivildienst. Damals, so beginne ich meine Ausführungen, als ob ich mich schon im Rentenalter befinden würde, musste man entweder den Wehrdienst ausführen oder Zivildienst leisten. Damals, also vor 2010 hatte man keine Wahl. Mann wurde dazu per Gesetz gezwungen. Und heute glaube ich mehr als jemals zu vor, dass es gut war.
Ich kann mich noch ziemlich genau daran erinnern, dass ich damals absolut keine Lust auf den Zivildienst hatte. Ich machte mein Abitur und wollte eigentlich schon ab der 11. Klasse eine Ausbildung beginnen und die Schule verlassen. Der Zivildienst im Anschluss an mein Abitur wirkte wie eine weitere Bremse meiner Karriere. Jedoch wollte ich mich auch nicht, wie viele gleichaltrige, einen Tag vor der Musterung hemmungslos besaufen und mit einem illustren Drogencocktail im Blut den Bundeswehrärzten zeigen in welcher schlechten Verfassung in zu sein schien.
Also trat ich den Zivildienst in einer Hauskrankenpflege an. Ich bekam einen kleinen Smart zugeteilt und war für neun Monate für das Abholen von Medikamenten, Rezepten und dem Bezahlen der Praxisgebühr (Ja, auch das gab es damals.) verantwortlich. Außerdem wurde ich einigen Klienten zugeteilt, um die ich mich fortan kümmern sollte.
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Während ich in meiner Kindheit eher Angst vor behinderten Menschen hatte oder mich manchmal sogar vor ihnen ekelte, gefiel mir meine Arbeit in der Zivildienststelle richtig gut. Nicht so gut, dass ich den Job eines Pflegers ein Leben lang ausführen würde, aber es bereitete mir Spaß den Menschen Freude in den Alltag zu bringen. Innerhalb dieser neun Monate habe ich so viel über die Menschen, das Leben und mich selbst gelernt, so dass ich es heute extrem schade finde, dass junge Menschen nicht mehr zu ihrem Glück gezwungen werden.
Pfannkuchen und Anekdoten aus dem Leben einer Reisenden.
Gerne erinnere ich mich an Frau Groß. Sie war eine geborene Berlinerin, gerne etwas fordernd, gerne bestimmt, aber immer freundlich. Sie mochte es nicht, wenn ich mich verspätete oder mal nur eine halbe Stunde länger als geplant bei ihr blieb. Also legte ich meine Termine so, dass ich immer ausgiebig mit Frau Groß Kaffee trinken konnte und anschließend genug Zeit hatte die Wohnung zu saugen sowie Bad und Parkett „nebelfeucht“ zu wischen. Sie mochte es gerne extrem sauber und ordentlich, war in ihrem Leben viel gereist und erzählte mir eine nach der anderen Anekdote. Auch wenn viele Pfleger ungern zu Frau Groß gingen, wurden wir richtig gute Freunde. Wir verstanden uns so gut, dass wir uns etwas zu Weihnachten schenkten, nach Feierabend Essen gingen oder den ganzen Rosenmontag mit Pfannkuchen auf der Couch verbrachten. Sie ist eine tolle Frau. Noch heute habe ich gelegentlich Kontakt zu ihr, zum Beispiel, wenn ich ihr frischen Honig vom Imker aus Grünau mitbringe.
Es wäre schade gewesen, sie nie kennengelernt zu haben, denn sie lehrte mir wie man das Leben genießen sollte.
Ein Leben lang an einem Ort wohnen.
Dann war da Frau Steiger, die ihr ganzes Leben in der gleichen Wohnung am Senefelder Platz verbracht hatte. Sie war schon über 80 Jahre alt, etwas tattrig, aber immer bester Laune. Sie liebte Karamellbonbons, fand es vollkommen in Ordnung, wenn ich mal nicht die ganze Wohnung saugte und erzählte mir gerne von ihrer gewinnspielsüchtigen Schwiegertochter. Ich durfte mir fast alles bei ihr erlauben. Nur ein Mal meckerte sie ordentlich mit mir, weil ich anrief als sie „Verbotene Liebe“ schaute.
Es wäre schade gewesen sie nie kennengelernt zu haben, denn sie lehrte mir wie man Freude an kleinen Dingen entwickeln kann.
Pornos und intime Bekenntnisse.
Schon nach kurzer Zeit war ich bei meinen weiblichen Klienten der Zivi Stevie und immer gerne gesehen. Irgendwie mochten die Omas und alten lieben Tanten meine Art. Etwas Anlaufschwierigkeiten hatte ich bei Hartmut. Während ich die Damen immer mit dem Sie ansprach, waren wir Männer immer schnell beim Du. Hartmut war noch nicht alt, aber er hatte sich innerhalb seines kurzes Lebens ziemlich viel kaputt gesoffen. Er konnte kaum noch laufen, wohnte im Heim und bereute sein ganzes Leben. Die ersten Male öffnete er mir nicht die Tür. Doch irgendwann, als ich zum elften oder zwölften Mal vor seiner Haustür stand, machte er die Tür auf, glotze mich an und nörgelte, dass ich ja ziemlich penetrant sei. Ich trat ein, er bat mir ein Bier an, das ich dankend ablehnte und wir fingen an zu quatschen. Bei Hartmut musste ich nie etwas tun, er hatte seinen Haushalt im Griff, jedoch brauchte er jemanden zum Reden. Mit mir hatte er diesen Jemand gefunden. Wir hatten viele lustige Nachmittage und schauten sogar ein Mal einen seiner Pornos. An diesem Tag gestand er mir, dass er schwul ist. Mir war etwas mulmig zumute, aber ich versicherte ihm, dass er sich nicht schämen brauchte. Nach diesem Tag haben wir uns nie wieder gesehen.
Es wäre schade gewesen ihn nie kennengelernt zu haben, denn er lehrte mir wie wichtig es ist Freunde zu haben, denen man vertrauen und alles erzählen kann.
Computer, Filme und Dosenbouletten.
Und dann gab es da noch Herrn Stein, den ich ebenfalls hervorheben möchte. Er hieß ebenfalls Hartmut und war ein ziemliches Ferkel. Von Ordnung und Sauberkeit hielt er nicht viel, auch wenn er ohne Frage gesundheitlich im Stande gewesen wäre seine Wohnung ganz alleine auf Vordermann zu bringen. Seine komplette Bude war voller Computerkram. Und damit meine ich wirklich seine komplette Wohnung. Er war ein regelrechter Computermessie und besitzt Sammlungen diverser Röhrenbildschirme, Tastaturen, Tonnen von Kabeln sowie alle Nintendo-, Xbox- und PlayStation-Generationen, so dass seine vollgestellte Wohnung nur noch aus kleinen Gängen bestand. Zwischen all den Geräten flitze seine scheinbar kleinwüchsige Katze hin und her. Bei meinem ersten Besuch saugte ich einen halben Zentimeter Katzen- und Hartmuthaare vom Teppich. Mir war etwas übel aber im Laufe der Zeit konnte ich Hartmut dazu motivieren selbst mal den Staubsauger zu schwingen. Während meiner Zivildienstzeit war Hartmut mein Dealer von Raubkopien und Experte von allerlei Computerproblemen. Viel konnte ich von Hartmut nicht lernen, da wir komplett unterschiedliche Interessengebiete hatten und er wegen seiner Faulheit nicht unbedingt als Vorbild galt.
Doch es wäre auch schade gewesen ihn nie kennengelernt zu haben, denn er zeigte mir wie man „aus Scheiße Bonbon“ machen kann und niemals Angst um seine Existenz haben sollte. Um sein zugeteiltes Taschengeld aufzustocken holte Hartmut ein Mal in der Woche Technikkram aller Art aus ganz Berlin und verkaufte es anschließend auf eBay. Seinen finanziellen Gewinn investierte er in Brause und Dosenbouletten.
Diese vier Personen und die kurz dargestellten Erfahrungen sind nur ein Bruchteil meiner Zivildiensterelebnisse. Sie stärkten mich, gaben mir die Zeit über mein Leben nachzudenken und vermittelten mir jede Menge Lebenserfahrung.
Danke für die Gelegenheit.
Ich kann wirklich jedem jungen Erwachsenen empfehlen sich ein paar Monate sozial zu engagieren, denn aus dieser Zeit nimmt man wirklich sehr viel mit!
Interesse am Freiwilligen Wehrdienst 2011
* Alle Namen habe ich geändert, damit Frau Groß keinen Ärger bekommt, weil wir die kostbare Zivilzeit immer überzogen haben und Hartmuts Betreuer nichts von seinem Nebenjob erfährt.