Kaum waren die Verhandlungen mit der Türkei weitestgehend abgeschlossen und Eckpunkte wie auch Zahlungsmodalitäten in trockenen Tüchern, schon machte man sich an die Umsetzung der EU-Vorstellung, die Flüchtlinge doch bitte wieder zum Problem der anderen zu machen. Dabei war es gleichgültig, ob Menschenrechtsorganisationen warnten und zum Teil aus Protest ihre Helfer vor Ort in Griechenland abzogen.

Schon vor einem Monat nannte die UNO den Deal „illegal“, mahnte an, dass es so zu „kollektiven und willkürlichen“ Ausweisungen kommen würde. Sie bezogen sich dabei auf das internationale wie auch europäische Recht, nach dem jeder Asylantrag individuell und gründlich geprüft werden müsse.

Die Regierungen hielten sich im Vorfeld bedeckt zu Äußerungen über die geplante Höhe der Rückführungen am ersten Tag. Sie wollten wohl Panik und Angst nicht noch weiter schüren, was gründlich misslang. Unruhe, Angst, Fluchtversuche gingen den heutigen Aktionen voraus. So skandierten Migranten: „Tötet uns lieber gleich hier, statt uns zurück in die Türkei zu schicken." Im Vorfeld machten Zahlen zwischen 500 und 600 Flüchtlingen die Runde, die am ersten Tag in die Türkei abgeschoben werden sollten. Griechische Nachrichtenagenturen vermeldeten bis zu 750 Menschen. Mehr als 5000 sollen es insgesamt werden.

Am gestrigen frühen Morgen sind nun 202 Menschen „zurückgeführt“ worden. Drei Stunden vor dem angekündigten Termin. Laut Behörden vor allem Pakistaner und Nordafrikaner. Lediglich zwei Syrer sollen „freiwillig“ Griechenland verlassen haben. Aus familiären Erwägungen. Die Abgeschobenen hatte man aus dem Lager in Moria geholt. Dort halten sich derzeit mehr als 3000 Menschen auf; seit Inkrafttreten des Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei am 20. März dürfen sie das Lager nicht verlassen. Vor kurzem kam es zu Ausschreitungen zwischen Flüchtlingen und der Polizei

Der Spiegel berichtet:

„Der Hotspot in Moria war bis zu dem 20. März noch frei zugänglich. Inzwischen hat er sich in ein Haftzentrum verwandelt. Gestern waren einige Migranten in Zellen eingeschlossen, während andere sich noch zumindest auf dem Gelände bewegen konnten. Die Eingeschlossenen sollen jene gewesen sein, die heute Morgen vor Sonnenaufgang die Busse besteigen mussten….Die Busse werden bewacht von Frontex-Polizisten zum Hafen eskortiert, entlang der Küste, durch die Berge. Drei Stunden vor dem offiziell angekündigten Zeitpunkt. Wir haben keine Zeit zu verlieren - das ist das Signal. Vielleicht wollte man auch ausnutzen, dass die meisten Migranten so früh am Morgen zu müde gewesen sein mögen, um sich zu wehren. Auch Journalisten waren nicht erwünscht. Hässliche Bilder in der EU, das wollten die Behörden gern vermeiden.“

Die ganze Aktion wohl vorrangig ein symbolischer Akt, der Entschlossenheit demonstrieren sollte, denn wie genau die Umsetzung des Paktes in den nächsten Wochen weiter verlaufen soll ist unklar.

Die heute Deportierten sollen nach Dikili gebracht werden. Dort war bis vor ein paar Tagen nicht mal dem Bürgermeister klar, dass er in Zukunft für diese zuständig sein würde.

„Der Bürgermeister des Küstenbezirks Dikili, Mustafa Tosun, kritisierte, die türkische Regierung habe die lokalen Behörden nicht über ihre Pläne vor Ort informiert. Der Deutschen Presse-Agentur sagte er am Sonntag: "Selbst ich als Bürgermeister habe bezüglich der Flüchtlinge leider keinerlei Informationen von den Verantwortlichen in Ankara erhalten." Ein Ladenbesitzer am Hafen von Dikili sagte: "Wir wissen nicht, was die Regierung vorhat. Die Behörden scheinen nicht sehr vorbereitet."

Im Gegenzug wurden heute 16 Syrer aus der Türkei nach Deutschland gebracht. 16 weitere sollen im Laufe des Tages folgen.

Offiziell war immer wieder von einer „europäischen Lösung“ die Rede; von Lösungsansätzen jedoch keine Spur. Ganz im Gegenteil tritt erneut, und vermutlich wieder ungesehen, das Scheitern Merkel’scher Politik zum Vorschein. Es ist das Abwälzen von Verantwortung auf Drittstaaten, Mangel an Voraussicht hinsichtlich der Konsequenzen der eigenen Politik, Mangel an Eigeninitiative, Gestaltungswillen. Die Idee der Abschottung, Abschreckung und ein desolater Mangel an eigenen Lösungsansätzen wurde bereits in der Vergangenheit offenbar, als Dublin III verschreckten deutschen Politikern herhalten musste, um vor allem die Anrainerstaaten zu Hauptverantwortlichen zu machen.

Auch heute hieß es quer durch alle Zeitungen:

„Nach EU-Deal: Griechenland schiebt die ersten Flüchtlinge ab“, als gäbe es die Entschlüsse der restlichen EU nicht. Als sei allein Griechenland beteiligt an den heutigen Vorgängen und denen der kommenden Tage und Wochen.

Man zog sich aus der Verantwortung bis dies nicht mehr möglich war. Und nun, da die Konsequenzen aus dieser Ursprungshaltung innereuropäische Lösungsansätze im Keim erstickt haben versucht man alles, um Probleme erneut auszulagern. Wie sagte Einstein so schön? „Die Definition des Wahnsinns ist, immer dasselbe zu tun, und ein anderes Ergebnis zu erwarten."

Dass man das Schicksal der Flüchtenden, in Teilen auch die Zukunft der EU, in die Hände eines Despoten legt, der schon in der Vergangenheit keinen Hehl daraus gemacht hat, dass er die Erpressbarkeit europäischer Politiker, allen voran die Merkels, geschickt zu nutzen weiß und von Menschenrechten im eigenen Land nicht viel hält ist der Höhepunkt eines politischen Debakels, das von einer dysfunktionalen Politik der Abschottung über eine gescheiterte „Willkommenspolitik“, die es freilich nur in der Rhetorik gab, wie auch einem völligen Versagen darin, zu gemeinsamen europäischen Lösungen zu kommen (nicht erst seit Merkels vorgeblichen Bemühungen um eine Kontingentlösung, die Deutschland selber verweigerte, bis Flüchtende explizit nach Deutschland wollten) nicht einen einzigen konstruktiven Lösungsansatz geboten hat. Weder hat man eine Hilfeinfrastruktur geschaffen, die dem selbstgeschaffenen Chaos Herr zu werden vermochte, noch gelang der Erhalt des europäischen Basiskonsenses:

Die Wahrung der Menschenrechte

Denn für die Zukunft soll gelten: Wer sich trotz des Abkommens auf den Weg nach Griechenland macht, dessen Asylantrag soll im Schnellverfahren innerhalb einer Woche bearbeitet werden. Diese Regelungen lassen keinen Zweifel daran, worum es geht: Um Abschreckung, nicht um Recht.

So äußerte sich gestern auch ein CSU-Sprecher vor laufender Kamera:

„… (die Bilder) entfachen die richtigen Signalwirkungen…“.

Die Bilder sollen um die Welt gehen, sollen abschrecken, so hofft man.

Dieser „realpolitische Coup“ (sic), wie es im Presseclub gestern hieß, war selbstverständlich nur möglich, weil man die Türkei zum „sicheren Drittstaat“ erklärte. Noch ist gar nicht raus, ob diese Definition rechtlichen Voraussetzungen standzuhalten vermag. Vielleicht ist man auch deswegen so eilig und eifrig dabei, möglichst schnell möglichst viele Hilfesuchende wieder loszuwerden.

Aus den Augen, aus dem Sinn bevor man sich der rechtlichen Lage stellen muss.

Auch die Einschätzung von Amnesty International fällt verheerend aus. Berichten zufolge hat die Türkei Flüchtlinge an den Grenzen zurückgewiesen und damit gegen internationales Recht verstoßen.

„Etwa Hundert pro Tag, darunter Familien mit Kindern, in einem bekannt gewordenen Fall auch Kinder ohne Begleitung, würden zurückgeschoben. Dies würde schon seit Mitte Januar so praktiziert, weswegen die Zahl der abgeschobenen syrischen Flüchtlinge wahrscheinlich in die Tausende geht, so der Vorwurf von John Dalhuisen, dem Programmleiter der Organisation für Europa und Zentralasien.“ (Quelle)

Unter den so Abgewiesenen waren auch Schwangere und Kinder.

Zudem sollen an der türkischen Grenze schon mindestens neun Menschen erschossen worden zu sein. Nicht unterschlagen darf man auch die Verbindungen der Türkei zum IS und damit zur Ursache der Krise.

Ein lesenswerter, ausführlicherer Artikel zum Thema „sicheres Herkunftsland Türkei“ sowie zur rechtlichen Lage findet sich in der „Zeit“:

„…Voraussetzung sind nicht demokratische Verhältnisse, sondern dass ein Flüchtling im Gastland unbehelligt einen Asylantrag stellen kann, dass sein Schutzbegehren in einem fairen Verfahren geprüft wird und er im Falle eines positiven Bescheids eine menschenwürdige Aufnahme findet. Dass er also ein Dach über dem Kopf bekommt, nicht verhungern muss und die Möglichkeit erhält, eine Arbeit aufzunehmen und seine Kinder zur Schule zu schicken.

Allerdings hat die Türkei noch längst nicht alle Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt. Der letzte Fortschrittsbericht der Europäischen Union von Anfang März attestiert der Regierung zwar einige Fortschritte. So existiert inzwischen in groben Umrissen ein Asylsystem und erhalten immer mehr syrische Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis. Es entstehen feste Behausungen und Schulen. Doch zugleich stellt die Brüsseler Kommission immer noch einige gravierende Mängel fest.

Gut möglich, dass die Türkei bald ein sicherer Drittstaat wird. Aber es wäre ein absoluter Hohn, sie zugleich als ein sicheres Herkunftsland einzustufen. Denn das sollten nur Staaten sein, die ihre Bürger nicht systematisch diskriminieren und politisch verfolgen, die also die grundlegenden Freiheits- und Menschenrechte achten. Davon aber ist die Türkei meilenweit entfernt…“

Dazu gilt es auch zu wissen, dass syrische Flüchtlinge in der Türkei zwar Recht auf medizinische Versorgung und in Teilen auch auf Sprachkurse haben, diese Rechte für Flüchtlinge aus Afghanistan oder dem Irak jedoch nicht gelten. Schon gar nicht für Pakistaner und Nordafrikaner:

"Die Menschen aus Afghanistan, Pakistan, dem Irak und anderen Herkunftsländern wollen weder die EU-Staaten noch die Türkei... Wer nicht aus Syrien stammt, sollte heute am Hafen registriert und sofort mit den bereitgestellten Bussen in Abschiebezentren in Izmir und Kirklareli bei Istanbul gebracht werden."

Man überlässt die Drecksarbeit der Abschiebung also lieber der Türkei, während man selber mit Willkommensrhetorik aufwartet.

Ein Ausschnitt zu den Lebensbedingungen hier:

„Etwa 300.000 syrische Flüchtlinge leben in insgesamt 27 Lagern. Diese Einrichtungen wurden als Containerstädte oder befestigte Zeltlager vom staatlichen türkischen Katastrophenhilfsfonds AFAD errichtet, der die Lager auch betreibt. Dort werden die Menschen mit Hilfsgütern und Lebensmitteln ausgestattet, es gibt eine medizinische Grundversorgung und Schulunterricht für die Kinder, teils auch in arabischer Sprache.

Die große Mehrheit der Flüchtlinge schlägt sich aber - so gut es eben geht - in den türkischen Städten durch. Bislang gab es für diese Menschen kaum oder keine staatlichen Hilfeleistungen. Die wenigsten waren überhaupt als Flüchtlinge bei den türkischen Behörden registriert. Der türkische Staat hat den Syrern bislang keinen Flüchtlingsstatus eingeräumt, Asylanträge können daher nicht gestellt werden. Ankara behandelt die Flüchtlinge als Gäste, die nur auf Zeit im Lande sind. Wer registriert ist, hat allerdings Anrecht auf kostenlose, staatliche medizinische Versorgung.“

Offensichtlich wird hier auf Zeit gespielt. Vielleicht hofft man, dass die Angst der Betroffenen vor Abschiebung und die Bilder auf Dauer wirksamer sind, ganz gleich wie Gerichte letztendlich den Status der Türkei einschätzen. Dass Menschen ohne Chancen in der Türkei auf Dauer ebenfalls den Aufstand proben und notfalls fliehen könnten, unterschlägt man in der EU vor lauter Selbstbeweihräucherung ob des Türkei-Deals lieber.

Einen dritten absurden Aspekt beleuchtet Joachim Behnke in einem Spiegel-Gastbeitrag:

„Der geplante Mechanismus ist ein Abschreckungsmechanismus, der syrische Flüchtlinge davon abhalten soll, die gefährliche Fahrt über die Ägäis nach Griechenland zu unternehmen. Diese Flüchtlinge sollen dann in die Türkei zurückgesandt werden und würden für ihre Unternehmung dadurch bestraft, dass sie auf der Priorisierungsliste ganz nach unten gesetzt würden. Die erfolgreiche Abschreckung soll das Geschäft der Schlepper unterminieren und den syrischen Flüchtlingen die Gefahr einer Überquerung der Ägäis ersparen.

Der Entwurf dieses Mechanismus kann sich allerdings entweder nur einer gehörigen Portion von Inkompetenz und Ignoranz verdanken oder einer nicht unbeträchtlichen Portion von Zynismus im heuchlerischen Gewand eines wohlwollenden Paternalismus. Denn wenn er tatsächlich funktionieren sollte, also die syrischen Flüchtlinge erfolgreich davon abhalten sollte, nach Griechenland überzusetzen, dann gäbe es ja auch keine syrischen Flüchtlinge mehr, die legal von der Türkei nach Europa ausreisen könnten. Denn damit die auf der Priorisierungsliste oben stehenden Syrer erfolgreich in europäische Länder umgesiedelt werden können, darf der Fluss der illegal nach Griechenland reisenden Flüchtlinge nicht abreißen.

Es könnte also theoretisch sogar ein ganz neues Geschäftsmodell entstehen, das den Beruf des Schleppers ins Gegenteil verkehren würde, nämlich das des "Flüchtlingsreisenden". Die auf der Priorisierungsliste oben stehenden Syrer würden nun ihr Geld besser nicht in Schlepper investieren, sondern in "Flüchtlinge", die durch ihre Reise nach Griechenland den ansonsten verstopften Abfluss nach Europa wieder freimachen würden.“

Was uns hier heute als großer „Durchbruch“ (Merkel), als europäische „Lösung“ verkauft wird, es verstößt gegen Menschenrechte ebenso wie gegen gesunden Menschenverstand. Es ist keine „Lösung“, denn es vertagt die Probleme bestenfalls. Es macht erpressbar. Es unterminiert die Grundpfeiler der EU:

„Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte – diese Werte sind seit jeher in den EU-Verträgen verankert. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist ein klares und starkes Bekenntnis zu den Rechten der EU-Bürgerinnen und -Bürger.“

Glückwunsch, EU. So schnell und so offensichtlich hat sich selten ein Bündnis dekonstruiert.

Die EU die wir derzeit sehen und erleben ist die EU, die sich selber verdient. Ein Produkt aus den Fehlentscheidungen der letzten Jahre. Eine EU der Grenzzäune und Mauern, der Konsens- und Entscheidungsunfähigkeit und Machtschieflage.

DAS ist der Kulturverlust, den es zu betrauern gälte.

Leider dürfte das Brett vorm Kopf der Nationalisten und Menschenfeinde ihnen die Sicht darauf verwehren.

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