Ich habe mit einem Artikel zum Thema „Flüchtlinge“ lange gerungen. Warum? Vermutlich ein Gemisch aus der Schockstarre, die die rasant fortschreitende Verschärfung der Lage hierzulande mit sich brachte, das Entsetzen über fast tägliche Übergriffe auf Flüchtlinge, seien sie nun verbaler oder tätlicher Natur. Empörung über den Mangel an Empörung seitens der Politik, die außer wenigen, lauen Verlautbarungen weit schweigsamer war, als es die „Nous sommes Charlie“ – Fraktion, die sich sonst gern für medienwirksame Anteilnahme feiern lässt, hätte vermuten lassen.Im Nachbarland aktiv Anteilnahme heucheln ist offensichtlich leichter, als konkretes Handeln wo Handlungsbedarf besteht.Auch die scheinbare Normalität, mit der Menschen, teils sogar mit Klarnamen, ihren Hass im Netz verbreiten, die tägliche Konfrontation mit der zunehmend radikalisierten Menschenverachtung, sie hat mich tief getroffen.
Es brennen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland
Und doch sieht der Mob, von Pegida über NPD, sowie den Rest „besorgter Bürger“, vor allem die „Asylflut“ (sick) als Bedrohung.
Es brennen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland
Und doch trinkt Sigmar Gabriel lieber ein Bier mit Til Schweiger, der bei Maischberger als genialen Plan gegen rechte Demonstrationen schon mal eine Verfassungsänderung fordert und das Versammlungsrecht ganz abgeschafft sehen will, während ganz zufällig Fotografen anwesend sind um für PR zu sorgen, als sich konkret zu distanzieren von den „besorgten Bürgen“.
Wäre auch eher schwierig, diese Kehrtwende zu vermitteln, war es doch Gabriel, der PEGIDA, die Bewegung „besorgter Bürger“, wie sich Nazis heute lieber nennen lassen, mit seiner Anwesenheit beehrte, immer darauf hinweisend, man müsse ihren „Sorgen“ Gehör schenken.
Und es war auch Gabriel, der mitten in der bereits eskalierenden Situation lieber „Sicherheit, Patriotismus und ein starkes Deutschland“ beschwor. Wohl wissend, in welchen Gewässern er fischte. Aber wenn die Betonung vermeintlicher patriotischer „Werte“ damals der AfD Wähler bescherte, so konnte eine SPD nicht allzu wählerisch daherkommen, ist das opportune Anbiedern wahlweise an CDU und Grüne, immer aber an den „gebotenen Kurs“ doch gleichermaßen Sicherheitsseil und Fallstrick für die „alte Tante SPD“, die dieser Tage weder sozialdemokratisch ist, noch ein alternatives, klares Profil zu bieten hat, das sie von der CDU unterscheiden würde. Ganz offensichtlich ist Stimmenfang im rechten Becken leichter zu haben, als die Rückkehr zur Sozialdemokratie.
Es brennen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland
Und der zuständige Innenminister? Wagt den Eiertanz. Nachdem er angesichts der unzähligen Toten im Mittelmeer, ertrunken auf der Flucht vor Armut, Bürgerkrieg, Verfolgung, Seenotrettung als Beihilfe für Schlepperbanden verurteilt hatte, hinsichtlich des Asyls schnellere Abschiebungen forderte und vor allem auf Kostenreduzierung schielte und zuletzt noch „weniger Taschengeld“ für Flüchtlinge forderte um damit alles auf die Karte „Abschreckung“ zu setzen, äußerte er sich nach den Vorgängen in Heidenau folgendermaßen:
"Sie (die Nazis von Heidenau) verlassen den Konsens der Demokraten.Und wenn dann noch Gewalt gegen die Polizei angewandt wird, überschreitet das eine Grenze!"
Dass die Empörung hier vor allem den Übergriffen auf Polizisten gilt, mag nur noch die verwundern, die die jahrelangen Forderungen de Maizières nach mehr Überwachung und staatlicher Kontrolle überlesen haben. Und dass diese Reaktion angesichts zunehmender Gewalt gegenüber Flüchtlingen, ihren Unterbringungsmöglichkeiten und auch den, vor Ort zuständigen Bürgermeistern und Helfern, die sich als Volksverräter beschimpfen lassen müssen, jede konkrete politische Handlung vermissen lässt, ist symptomatisch für den Umgang der regierenden Politiker mit dem Thema „rechte Gewalt“.
Es brennen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland
Und doch, trotz dieser langen Vorankündigung wachsender Gewalt, konnten „besorgte Bürger“ zwei Tage lang ungehindert Hassparolen schreien, Steine werfen, pöbeln und ein, ihnen nicht genehmes, Flüchtlingsheim belagern.Zwei Tage, unter den Augen der Öffentlichkeit, ohne Eingreifen des Staates, der gegen linke Kleinstdemonstrationen schon mal mit Großaufgebot auftritt.Zwei Tage, in denen die Situation Zeit hatte, zu eskalieren, in denen sich die „besorgten Bürger“ in ihrer Gewalttätigkeit bestätigt sehen konnten, in denen den ankommenden Flüchtlingen angst und bange werden musste.Dabei ist die Situation seit langem eskaliert. Öffentlich. Kein Politiker kann behaupten, man hätte die Eskalation nicht kommen sehen.Man muss sich dieser Tage fatal an Rostock-Lichtenhagen 1992 erinnert fühlen.
Heute, am 23.08.15, war auf dem Online-Portal der Tagesschau unter dem Titel „Entsetzen über den Hass von Heidenau“ folgender erster Absatz zu lesen:
„Führende Vertreter von Regierung und Opposition haben die Ausschreitungen gegen eine Flüchtlingsunterkunft in Heidenau bei Dresden scharf verurteilt.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière konstatierte gegenüber der "Bild am Sonntag" einen Anstieg von Hass, Beleidigungen und Gewalt gegen Flüchtlinge. "Das ist für unser Land unwürdig und unanständig. Jeder, der so denkt, sollte sich auch nur für einen Moment vorstellen, er wäre in der Situation der Flüchtlinge", sagte der Minister. "Jedem, der so handelt, treten wir mit der gesamten Härte des Rechtsstaates entgegen."
Aber auch von den Asylbewerbern sei zu erwarten, dass sie Recht und Gesetz einhielten und sich nach den hier geltenden Regeln verhielten.“
Neben den üblichen Lippenbekenntnissen, der „Verurteilung“, ohne konkrete Maßnahmen zu benennen, neben der BILD am Sonntag als übliches Organ der Verlautbarung (angesichts der Menschen, die angesprochen werden sollen, möglicherweise sogar das Richtige), ist der letzte Satz ausreichend gewesen, um bei mir, zumindest kurzzeitig, für Sprachlosigkeit zu sorgen.
Selbstverständlich ist „von Asylbewerbern“, so sie denn angekommen und untergebracht sind, zu erwarten, Gesetz und Recht einzuhalten.Ich möchte aber daran erinnern, dass die Flüchtlinge, um die es hier geht, gerade erst angekommen, von einem brüllenden Mob in Empfang genommen worden sind und seit Tagen massiv bedroht werden. Das wird als „deutsches Recht“ vermittelt. Ebenso wäre anzumerken, dass die betreffenden Flüchtlinge, ebenfalls nach bestehendem Recht, als unschuldig gelten, bis eine mögliche Schuld bewiesen ist.
Was eine Ansprache über die „Erwartungshaltung“ des Ministers an die Asylsuchenden in diesem Kontext für eine Relevanz haben sollte, in einer Situation, in der umgekehrt die Asylsuchenden ihren Anspruch auf Schutz von Leib und Leben und sichere Unterbringung an den Minister formulieren müssten, wird mir wohl schleierhaft bleiben.
Frei übersetzt heißt dies möglicherweise: „Wenn ihr jetzt nicht den Mund haltet, euch nicht benehmt, können wir für eure Sicherheit nicht garantieren“Es klingt, als mache man die Asylsuchenden verantwortlich für den Mob, anstatt den Mob für sein Handeln zur Rechenschaft zu ziehen.Auf eine klare Stellungnahme der Bundeskanzlerin darf wie üblich gewartet werden.Hier ein äußerst lesenswerter „vor Ort“-Bericht.
Neben dieser aktuellen Entwicklung ein paar Zahlen und Hintergründe für den Anstieg an Asylbewerbern.Zu finden sind diese im Detail für Interessierte übrigens auf der wunderbaren Seite von „Pro Asyl“. Wer sich immer noch unwissend fühlt, unentschlossen, wie er zum Thema stehen sollte, findet dort Hintergründe:
„Mitte 2014 wurden weltweit 51,3 Mio. Menschen auf der Flucht gezählt – das ist die höchste Weltflüchtlingszahl seit dem zweiten Weltkrieg. Rund 5,5 Mio. Menschen von ihnen wurden allein im ersten Halbjahr 2014 zur Flucht getrieben, die meisten von ihnen blieben „Binnenvertriebene“, also Flüchtlinge innerhalb ihres Herkunftslandes. 1,4 Mio. neu Vertriebene überquerten internationale Grenzen. Zur Orientierung: Im selben Halbjahr erreichten vergleichsweise bescheidene 77.000 Asylsuchende Deutschland.“
Die Hauptherkunftsländer nach Anzahl der Asylanträge:
Syrien Seit vier Jahren im Krieg
Die Balkan – Staaten deren Flüchtlinge werden hierzulande besonders geschmäht, gelten sie doch in den Augen der meisten Bürger als sogenannte „Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge“. Pro Asyl schreibt dazu sehr passend:„Ihre zahlreiche Existenz weist auf nichts weniger als eine gescheiterte Nachkriegs-Politik auf dem Balkan hin: Mitten in Europa leiden Menschen unter erheblicher Diskriminierung, existenzieller Not, sogar Hunger. Im Unterschied zu EU-angehörigen Arbeitsuchenden bleiben ihnen die Chancen der europäischen Freizügigkeit verwehrt – so helfen dann nur Asylgesuche, um über den Winter zu kommen. Dabei liegt die Chance auf eine Asyl-Anerkennung vor dem Hintergrund gruppenweiser Asyl-Schnellverfahren nahe Null.“
Eritrea „In einem der repressivsten Regime der Welt landen Kritiker/innen in geheimen Gefängnissen. Wer über die Grenze flieht, riskiert, als Deserteur erschossen zu werden. Dennoch treibt die Militärdiktatur seit Jahren fortwährend Menschen in die Flucht“
Afghanistan „Im Jahr des deutschen Truppenrückzugs ist die aktuelle Zahl der aus Afghanistan nach Deutschland Geflüchteten ein Indiz für die erschreckende Tatsache, dass Terror und Gewalt im Land schlimmer wüten denn je. Seit Erhebung der relevanten Zahlen durch die UN-Unterstützungsmission hat es nicht so viele zivile Opfer gegeben wie 2014“
Somalia „ein in verschiedene Machtbereiche zerfallenes und von Warlords terrorisiertes Land“
Irak „liegt als Herkunftsland von Asylsuchenden in Deutschland etwas überraschend erst auf Platz zehn, trotz massiver Fluchtbewegungen infolge des IS-Terrors. Viele in der Region Geflüchtete hoffen noch auf eine Rückkehr – für zahlreiche Opfer von Krieg, Terror oder Vergewaltigung und insbesondere für Angehörige massiv bedrohter Minderheiten wird dies aber kaum realistisch sein. Es ist anzunehmen, dass ein Teil der Flüchtlinge Europa schlicht (noch) nicht erreicht hat und ihre Ankunft hier zeitverzögert zunehmen wird“
Anstatt Menschen hierzulande vertraut zu machen mit den jeweiligen Fluchtgründen, mit einer menschlichen aber klaren Gesetzgebung, wird die Angst vor Überfremdung von den zuständigen Politikern noch für Wahlkampf und Profilierung der eigenen Person missbraucht.
So wird in schöner Regelmäßigkeit vor allem von Unionspolitikern das Märchen wiedergekäut, Deutschland nähme mehr Flüchtlinge auf, als jedes andere EU-Land.
Diese Aussage stimmt nur hinsichtlich der Asylanträge.
“Kein Land Europas erhält mehr Asylanträge. In Deutschland wurden vergangenes Jahr mehr als zwei Drittel (71 Prozent) aller bearbeiteten Anträge abgelehnt. Insgesamt wurden fast 9.000 Personen als Flüchtlinge anerkannt, weitere 8.500 erhielten subsidiären Schutz oder humanitären Rechtsschutz“(Quelle)
Gerechnet auf die Einwohnerzahlen liegen Schweden, Belgien, Malta und Luxemburg weit vor Deutschland.
Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Völkerwanderung und Kulturdurchmischung. Die Ideologie vom „reinen Blut“, sie ist ein Märchen, gesponnen von Kolonialisten, die um die Herkunft des Menschen nicht wussten, von Verfechtern der Sklaverei, Despoten, die ihre eigene Herkunft überhöht sehen wollten, ein Relikt aus Zeiten monarchischer Blutsideologie.
Genetische Studien haben Afrika als Wiege der Menschheit ausgemacht. Von dort aus zog es den Menschen nach Asien, Europa, Amerika, Australien. Nicht selten floh er vor Verfolgung, vor Krieg, vor Hunger. Und immer beanspruchte er das Recht auf Sesshaftigkeit. Wir reisen heute schneller. Das bringt gerade Deutschland ungeheure Wettbewerbsvorteile und damit rasanten finanziellen Zugewinn.
Dass es gerade dieser Zugewinn ist, der Export von Waffen und Armut, der Export von unterbezahlten Billigjobs der amerikanischen, chinesischen, deutschen Großindustrie, die Verhinderung von Zöllen in den Teilen Afrikas, die wir mit unseren subventionierten Lebensmitteln überfluten, Überfischung, Ressourcenausbeutung, der unterm Strich nicht zuletzt mitverantwortlich ist für Krieg und Flucht, Hunger und Elend, sollte uns angesichts unserer Abschottungspolitik beschämen. Wir profitieren von der Globalisierung, also sind wir ihr auch verpflichtet.
Einen winzigen Blick auf ein ungeheures Geflecht an Ursache und Wirkung bot die Arte-Sendung „Why Poverty“, derzeit noch zu finden auf YouTube.
Es ist blanke Heuchelei unserer „Leistungsgesellschaft“, den eigenen Wohlstand ausschließlich auf eigene Leistung zurückzuführen, ohne das große Ganze zu betrachten.
Ebenso ist es Heuchelei, diesen Wohlstand für ein Geburtsrecht zu halten, ohne dieses angebliche „Recht“ allen anderen ebenfalls zuzusprechen.
Tatsächlich würden auch Sie nicht tatenlos zusehen, wie Ihre Kinder in Krieg und Elend ohne Zukunftsperspektive bleiben.Auch Sie würden für Ihr Wohl fliehen, sähen Sie darin eine Chance auf Verbesserung der Lebensumstände.
Selbstverständlich ist auch das Wahren von Wohlstand ein gesundes Interesse am Selbsterhalt. Allerdings ist doch hier anzumerken, dass der Wohlstand Deutschlands derzeit nicht von Flüchtlingen gefährdet wird, sondern von der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in „arm“ und „reich“, von künstlich klein gehaltenen Löhnen, von rücksichtsloser Sparpolitik zugunsten einer Minderheit, breiter Entsolidarisierung, wachsender Existenzängste der Mehrheit, gegen deren Ursachen sich kaum ein „besorgter Bürger“ verwehrt.
Es brennen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland
Der gute Patriot, er tritt nach unten und kriecht nach oben. Eine Zahl von 0,8 Asylbewerbern auf 1000 Einwohner in einem reichen Land wie Deutschland sollte nicht wirklich die Angst vorm eigenen, baldigen Hungertod befeuern. Und sie gibt niemals und unter keinen Umständen das Recht, den vermeintlichen „Fressfeind“ mit Fackeln aus dem Land zu jagen. Denn gerade Sie, „besorgte Bürger“, sollten doch angesichts Ihrer Forderung nach guten, deutschen Werten die Rechtslage dieses Landes zur Kenntnis nehmen.
Was mir dieser Tage Sorge bereitet ist nicht die Tatsache, dass Flüchtlinge an unseren Grenzen stehen und auf Einlass hoffen. Ich sorge mich darum, dass die Politiker dieses Landes auch diesmal erst wieder Handlungsbedarf sehen, nachdem vorher Gedenksteine aufgestellt wurden. Und ich sorge mich um den Bildungsstand der breiten Bürgerschaft im „aufgeklärten“ Deutschland von heute. Schade, dass sich nur wenige finden, um zwei Nächte lang gegen die Defizite zu demonstrieren, die es „besorgten Bürgern“ unmöglich machen, diffusen Ängsten mit Verstand anstatt mit Gewalt zu begegnen.