Es muss sich wie ein Lauffeuer unter den Wartenden verbreitet haben: Das Gerücht, die Grenze zu Mazedonien sei offen und damit eine Weiterreise ins Innere Europas wieder möglich. Am Grenzübergang zu Mazedonien, dem Grenzposten Idomeni, warten dieser Tage etwa 7000 Flüchtlinge auf ihre Weiterreise. Das Auffanglager dort bietet lediglich Platz für 1500 Menschen, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser wie auch medizinische Versorgung sind längst nicht mehr sichergestellt. Nach anfänglichem Jubel über die mögliche Weiterreise fand die anstürmende Menge lediglich noch immer geschlossene Grenzzäune vor. Das griechische Fernsehen zeigte Bilder, in denen man beobachten konnte wie es einigen Flüchtlingen gelang, einen Teil der mazedonischen Grenze niederzureißen, bevor die Polizei mit Tränengas gegen sie vorging.
Die Lage in Griechenland verschärft sich zusehends. Spätestens seit Österreich, Slowenien, Kroatien und Serbien auf der Westbalkankonferenz, unter Ausschluss von Deutschland und Griechenland beschlossen haben, nur noch ein bestimmtes Kontingent an Flüchtlingen durchreisen zu lassen, im Falle Österreichs eine Obergrenze von 80 Asylbewerbern pro Tag und eine Durchreiseerlaubnis nach Deutschland von 3200 Flüchtlingen pro Tag, entsteht in Griechenland ein Rückstau. Geschätzt 22.000 Flüchtlinge sitzen derzeit dort fest, bis im März geht man von zu erwartenden 70.000 Menschen aus.
Die Abschottungspolitik droht, aus Griechenland ein großes Internierungslager zu machen. Das Land, durch Misswirtschaft und anschließende Austeritätspolitik schon mit der Versorgung der eigenen Bürger überfordert, steht vor einer drohenden humanitären Katastrophe. Die Lage vor Ort wird von allen Seiten als desolat beschrieben. Laut „Zeit“ hält Piräus der Anzahl der Ankommenden kaum stand und auch im Zentrum Athens, am Viktoria-Platz sollen hunderte Flüchtlinge, darunter auch Familien mit Kleinkindern, im Freien die Nacht verbracht haben. (Fotos u.a. dazu hier) Die Auffanglager und Wartehallen sind überfüllt. Laut „Welt“ bereitet „die EU-Kommission indes umfangreiche Nothilfe für in Griechenland festsitzende Flüchtlinge vor. Brüssel sei bereit, „alle verfügbaren Instrumente“ zu nutzen, um eine humanitäre Krise zu verhindern…Demnach geht es etwa um Unterstützung beim Grenzschutz sowie um die Bereitstellung von Unterkünften, Sachleistungen und finanzielle Hilfe“.
Ein Hohn angesichts der Tatsache, dass die massenhafte Ankunft von Flüchtlingen in den Anrainerstaaten, damit auch Griechenland, nicht neu ist. Um es nochmal in Erinnerung zu rufen:
- Bereits im März 2011 warnte ausgerechnet Orbán schon vor einer drohenden Massenflucht aus den Nordafrikanischen Ländern und ermahnt Europa zu einer gemeinsamen Politik: „Neben der Bekräftigung der Vorbehalte seiner Regierung betonte er aber auch, dass die Europäische Union Lösungen hinsichtlich einer eventuellen Massenflucht und der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe finden müsse
- Der Krieg in Syrien dauert nun vier Jahre und auch hier zeichnete sich rechtzeitig ab, in welchem Ausmaß die Flüchtlinge das Land verließen: „Der Krieg des syrischen Regimes gegen die eigene Bevölkerung hat die weltweit größte Flüchtlingsbewegung seit den Massakern von Ruanda vor 20 Jahren ausgelöst. Es gibt 21 Millionen Syrer. Neun Millionen von ihnen sind auf der Flucht, die meisten im Innern des Landes. In die Nachbarländer Libanon, Türkei, Irak und Jordanien flohen bis Mitte April etwa 3 Millionen Menschen“(Quelle)
- „Durch die Beibehaltung des Dublin-Verfahrens und seine Erweiterung auf alle Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, wird faktisch den südlichen EU-Staaten (insbesondere Malta, Italien, Spanien und Griechenland, siehe auch Einwanderung über das Mittelmeer in die EU) sowie Ungarn (siehe auch Balkan-Route) eine größere Verpflichtung bezüglich der Registrierung und Erstaufnahme auferlegt als nördlicheren Ländern. Die Einführung eines Solidaritätsmechanismus lehnte Deutschland 2013 noch ab.“ (Quelle)
Die Problematik besteht seit Jahren und doch muss die Situation erst eskalieren, um der EU-Kommission Absichtserklärungen abzuringen. Und wie schnell und konkret dieses Hilfsversprechen jetzt umgesetzt wird, steht in den Sternen.
Im reichen Deutschland nicht neu (73 Fälle von Anschlägen auf Flüchtlingsheime allein im Januar 2016), kam es am Wochenende zum ersten Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Griechenland. Das Land, das trotz seiner eigenen desolaten Lage (45 Prozent der Rentner haben Nettobezüge, die unter der offiziell ermittelten Armutsgrenze von 665 Euro im Monat liegen, Arbeitslosenquote bei gut 25,6 Prozent. Arbeitslosengeld 360 Euro für einen Ledigen oder bis zu 576 Euro für eine sechsköpfige Familie, in Griechenland maximal zwölf Monate gezahlt. Sozialhilfe oder Grundsicherung gibt es nicht. Neun von zehn Arbeitslosen erhalten keinerlei staatliche Unterstützung, Kindersterblichkeit zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent gestiegen, die Zahl der Suizide in Griechenland hat sich mehr als verdoppelt) bisher Unglaubliches geleistet hat bei der Erstversorgung von Flüchtlingen, kommt an seine Grenzen. Zahllose freiwillige Helfer fischen vor Lesbos, wo noch immer täglich Hunderte ankommen, die die Überfahrt über die Ägäis wagen, Menschen in Seenot aus eisigem Wasser, manchmal gar nur noch Tote, helfen auf dem Festland bei der Versorgung und Unterbringung.
Schneller zur Hand als humanitäre Hilfe ist offensichtlich militärische Abhilfe. Vor vier Tagen beschlossen die Nato-Verteidigungsminister einen Einsatz in der Ägäis:
„Die Aufgabe der Nato-Mission sei, "den Küstenschutzbehörden Griechenlands und der Türkei und (der EU-Grenzschutzagentur) Frontex ganz schnelle, präzise, klare Hinweise zu geben, wann Schlepperboote von der türkischen Küste aus in See stechen", sagte von der Leyen am Donnerstag in Berlin. Sie mahnte, derzeit würden Schlepper und Schleuser "Millionen, wenn nicht Milliarden damit verdienen, dass sie die Menschen ausnehmen und auch ihr Leben riskieren, indem sie sie auf hohe See schicken".
Solange derartige Vorhaben jedoch nicht mit gleichwertiger Ursachenbekämpfung einhergehen ist auch dieses Vorhaben nichts als Abschottung in der Hoffnung, der vormalige Status Quo, in dem Europa international agieren aber nicht international verantwortlich sein konnte, ließe sich mit Abwarten wieder herstellen. Und auch hier ist noch längst nicht abschließend geklärt, ob der Beschluss letztendlich durchgesetzt werden kann:
„…“Personen, die aus der Türkei kommen, werden in die Türkei zurückgebracht." Dabei sei nationales und internationales Recht zu beachten. Die Türkei hatte sich gegen eine weitgehende Aufnahmezusage gesträubt und dürfte in konkreten Fällen auf rechtliche Hindernisse verweisen.“
Auch bleibt zu erwähnen, dass Frontex nicht umsonst diverse Male in der Kritik stand.
Neben der humanitären Katastrophe und der weiterhin ungeklärten Frage nach dem „Wie?“ wenn es um gemeinsame Lösungsansätze geht entspinnt sich vor unseren Augen auch eine politische Katastrophe. Neben Grenzziehungen im Alleingang innerhalb des Staatenbundes EU und Konferenzen unter Ausschluss aller anderen Beteiligten (Westbalkankonferenz) wurde eine diplomatische Eiszeit zwischen Österreich und Griechenland eingeläutet. Bündnispartner, wohlgemerkt. In Friedenszeiten normalerweise kaum denkbar, zog Griechenland seinen Botschafter aus Österreich ab. Zwar noch unter freundlicher Rhetorik aber doch mit klarer Aussage:
„Kommen die Flüchtlinge nicht mehr weiter, droht ein Rückstau in Griechenland. Athen fürchtet deshalb, dass die EU bereits plant, das Land zu einer Art riesigem Auffanglager zu machen und protestiert energisch. „Griechenland wird es nicht hinnehmen, Europas Libanon zu werden", sagte der für Migrationsfragen zuständige Vize-Innenminister Ioannis Mouzalas mit Blick auf das Land, das ein Viertel aller ins Ausland geflohenen Syrer beherbergt. Eine große Zahl von EU-Ländern bereite sich darauf vor, „eine humanitäre Krise in Griechenland zu bekämpfen, die sie selbst schaffen wollen". Mouzalas warnte, auch Athen könne in der Flüchtlingskrise einseitige Maßnahmen ergreifen.
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hatte nach dem Wiener Treffen der Balkanländer am Mittwochabend mit einer Blockade von EU-Entscheidungen gedroht. Seine Regierung werde „keinem Abkommen mehr zustimmen, wenn die Last und die Verantwortung nicht im richtigen Verhältnis geteilt" würden, sagte er im Parlament. „Wir werden nicht akzeptieren, dass sich unser Land in ein Lagerhaus für menschliche Seelen verwandelt." (Quelle)
Zudem wurde ein Besuch der österreichischen Innenministerin Mikl-Leitner (ÖVP)von öffentlicher Stelle abgelehnt.
Dass die Befürchtungen Athens nicht aus der Luft gegriffen waren, beweist die Zuspitzung der Lage vor Ort. Wer Griechenland als großes Freiluftlager befürwortet oder Problemlösung in Grenzziehung und Abschottung sieht, hat noch immer nicht verstanden, dass Menschen in wirklicher Not vor Grenzen ebenso wenig Halt machen, wie vor der Aussicht, auf dem Mittelmeer zu ertrinken. Der hat auch nicht begriffen, dass eine Spaltung der EU auch den eigenen Frieden und Wohlstand gefährdet, weit mehr als ein paar Flüchtlinge dies könnten. Die Geschichte des nationalstaatlichen Europas ist nicht umsonst geprägt von Kriegen. Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit und damit zu mehr Konkurrenz untereinander macht die einzelnen Staaten erpressbarer, erhöht den Druck im Wettkampf um noch niedrigere Löhne, noch niedrigere Steuern, noch massiveren Sozialabbau. Frieden und Wohlstand sind in Zeiten der Globalisierung, in Zeiten international agierender Staaten und international agierenden Kapitals nur in Solidarität zu haben. In gemeinsamen Steuerrichtlinien, gemeinsamen Löhnen, gemeinsamer Sozialpolitik und damit auch gemeinsamer Handlungsfähigkeit. Schwer, dies denjenigen zu vermitteln, die ihr Leben dem Konkurrenzgedanken und dem Sozialneid gewidmet haben. Der nationale Egoismus, allen voran auch der Deutschlands, hat die eigene Handlungsunfähigkeit befeuert und dabei keinen Einzelstaat handlungsfähiger gemacht. Dieser Erkenntnis bedürfte es, um Europa überhaupt noch als die Zukunftsperspektive wahrzunehmen, die es ist, der Idee Europa eine Chance zu lassen.
Egal, auf welcher Seite der Mauer man lebt, langfristig verlieren beide Seiten ihre Freiheit.