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Trat man in den letzten Tagen morgens vor die Tür, begrüßte einen der Nachtfrost, der von einem Tag auf den anderen Straßen und Autos, Bäume und Büsche überzog. Und man kommt kaum umhin, Parallelen zu ziehen. Auch unsere Gesellschaft wird frostiger, den Nachbarländern geht es nicht anders. Und auch mit dem Frost verhält es sich in jedem Jahr ähnlich: Von der Bahn über die Post bis hin zum regulären Autofahrer will ihn niemand kommen sehen haben, obwohl selbst ohne meteorologische Vorhersagen Winter eben im Winter einzukalkulieren wäre.
Die Kausalität „Winter = Potenziell kalt und glatt“ funktioniert, trotz verlässlicher Prognosen und Wahrscheinlichkeiten, für die meisten Menschen offensichtlich nicht in einem Maße, das sie Vorkehrungen treffen lassen würde. Und wie der Bodenfrost zuverlässig Blechschäden, Verspätungen und gelegentlich auch Tote fordert, wenn er gar zu garstig wird, ist auch die soziale Kälte, so man sie verdrängt bis es zu spät ist, geeignet, gesellschaftliche Schäden und Schäden am Menschen zu verursachen. Beides absehbar. Lange vorher. Nur, dass der Winter den jährlichen Turnus pflegt, während die Abkehr von Menschenrechtsideen ihrem eigenen, historischen Rhythmus folgt. Doch auch für sie gibt es Vorzeichen. Was dem Winter der Herbst, das Laub auf den Straßen, die kahlen Bäume, ist der Abkehr vom Humanismus, von Recht und Sozialstaat die öffentliche Anfeindung, die Ausgrenzung der Schwachen, Alten, Behinderten, Armen, Gleichgültigkeit gegenüber Gesellschaft und dem Gegenüber und nicht zuletzt die Zuwendung zum Autoritarismus. Doch was man im Winter, in Schnee und Eis noch direkt lernt – das Auto, dessen Lenkrad man nicht selber im Griff hat, indem man wenigstens eine Hand zum Steuern nutzt, gerät leichter ins Rutschen und die Unfallgefährdung steigt - das lernt man im Politischen oft erst zu spät. Der vermeintliche Heilsbringer, dem man auf Basis hohler Rhetorik zujubelte, versprach er doch Wohlstand, Sicherheit, das wohlige Nichtstun und die Übernahme der Steuerfunktion, hat weder die Möglichkeiten noch die tieferen Einsichten, die individuelle Lage zu verbessern, das Auto zu lenken, in dem man sitzt. Er sieht weder den Weg, der hinter dem Individuum liegt, noch dessen Potenzial oder die Möglichkeiten auf dem Weg vorwärts. Er regiert nach eigenem Gutdünken, nach Ideologien, totalitär.
Nur gibt es die eine Lösung für alle eben nicht. Dieser Gedanke ist in Verfassung und Rechtsstaat implementiert. Und er war ein Teil des Strebens nach Sozialstaatsprinzipien, bis hierzulande die rot-grüne Koalition den Spätherbst einläutete und die große Koalition ihn dann festigte und vorantrieb.
Eine der Errungenschaften der Menschenrechtsidee, heute zum „Gutmenschentum“ abgestempelt, war, das Individuum als Wert an sich zu verstehen, Minderheiten und Individuen mit Rechten auszustatten, die einer Diktatur der Mehrheit entgegenstehen. Wer nun also auf der rutschigen Fahrbahn ins Schlingern gerät, aus Eigenverschulden oder durch Fremdverschulden, dem ist nicht zwangsläufig geholfen, wenn er kollektiven Ratschlägen, das Lenkrad nach rechts umzureißen, folgen soll. Das hat schon so manchen in die Leitplanke getrieben.
Während der Winter, zumindest in unseren Breitengraden, jedoch zwangsläufig einkehrt, so ist die Entwicklung hin zu einem politischen Winter nicht ganz so zwangsläufig. Sicher ist alles Entwicklung und Bewegung und jede große Kultur fand irgendwann ihr Ende, doch kann man sich entschließen gegenzusteuern, mitzutun oder eben andere machen zu lassen. Und so ist dann auch Zorn auf die politische Klasse, auf Korruption, auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sicherlich berechtigt, doch es ist individuelle Entscheidung, diesen in konstruktive oder destruktive Bahnen zu lenken. Wobei konstruktiv, entgegen oft kolportierter, konservativer Stimmen aus der vermeintlichen „Mitte“, eben nicht zwangsläufig Einverständnis und Wahl der Etablierten bedeuten muss, sondern durchaus auch heißen kann, Neues zu gründen, neue Ideen einzubringen, gegen das Bestehende zu arbeiten. Wobei hier „gegen das Bestehende“ eben nicht bedeutet „gegen Menschen“.
Es bedeutet vielmehr, im Rahmen gesellschaftlichen Konsens‘ gemeinsamer Werte, von denen der Wert des Individuums an sich, ohne Ansicht von Herkunft, Hautfarbe, Bankkonto, Religion etc., wohl das höchste Gut ist, Neues schaffen. Dem eigenen Lebensbedürfnis Platz zu schaffen, wie auch dem Bedürfnis des Anderen Platz zu lassen. Wer sein Schicksal in die Hände einer anderen Person legt, einer kleinen Gruppe, anstatt eben die Machtverhältnisse, die ihn bisher so echauffiert haben, aufzulösen, der hat jedes logische und konstruktive Argument hinter sich gelassen. Kein Hofer, keine Le Pen, kein Trump, kein AfD-Grande dieser Welt wird in Ihrem Sinne entscheiden. Und er wird Ihnen auch keine Träne nachweinen, sollten die neuen, autoritären Regeln Ihnen zum Schaden gereichen, ganz gleich, ob er Ihre Stimme hatte oder nicht. Und ist Macht erst einmal in autoritären Händen, wird sie noch weniger gern wieder abgegeben, als das heute schon der Fall bei denen ist, die sich für „gemäßigt“ halten, während sie den Boden bereiten für die radikalen Tendenzen, die sie nach außen verurteilen.
Erdogan ist eines von vielen Beispielen dafür. Das Wesen des Autoritarismus ist es eben, nicht teilen zu wollen. Nicht Entscheidungsfindung, nicht Macht, nicht Gesellschaftsidee und -Raum. Und wenn Sie immer noch dem Glauben nachhängen, Autoritäre würden mit Ihnen Wohlstand teilen, nur weil Sie den richtigen Pass bei sich tragen, dann schauen Sie sich die Schlösschen und Schlösser, die Prunkbauten und die Selbstbereicherung in Autoritären Staaten an. Vielleicht belehrt Sie das noch eines Besseren, bevor Sie und die Menschen, die diese Gesellschaft mit Ihnen teilen, dies auf die harte Tour lernen müssen. Rebellieren Sie gegen das Unrecht, das Ihnen in der Gesellschaft begegnet. Schaffen Sie nicht noch Schlimmeres. Seien Sie zornig auf die, die nachweislich ihren Beitrag dazu geleistet haben, nicht auf die, die Schwächer sind als Sie.
Ihr Zorn ist berechtigt. Ihr Fazit ist es nicht.
Egal wie rutschig die Straße gerade ist: Das Lenkrad im Moment der Notlage in der eigenen Hand ist immer besser als in den Händen eines anderen.
Einige Menschen haben das begriffen, als sie am vergangenen Sonntag das Ruder herumrissen und Hofer verhinderten um Van der Bellen eine Chance zu geben. Leider ist damit noch nicht viel gewonnen, außer der temporären Erleichterung die daraus resultiert, dass die Gleichgültigkeit noch nicht alle erreicht hat. Es ist ein wenig geschenkte Zeit, in der die „Etablierten“ verstehen lernen müssen, welchen Anteil sie an der Gesellschaftsspaltung und der zunehmenden Kälte haben.
Wenig hilfreich sind da gerade jetzt Kommentare, wie Sie Frau Rohrer auf FischundFleisch veröffentlichte:
„Wir wundern uns aber auch, dass die Beschreibung der Stimmung in Österreich, die aufsteigende Wut auf Politik und System eben, gestern, Sonntag, nicht ausreichend im Wahlergebnis durchgeschlagen hat. Zwar haben laut einer Nachwahlanalyse Pessimisten zu 70 Prozent Hofer gewählt und Optimisten Van der Bellen, aber insgesamt kann die Stimmung bei einer Differenz von 6,6 Prozentpunkten nicht so mies sein, wie meist dargestellt.“
Frau Rohrer zieht die falschen Schlüsse. Die Stimmung ist mies. Die soziale Ungleichheit wächst. Doch es gibt dennoch Betroffene, die trotz der eigenen persönlichen Schieflage, trotz empfundenen Unrechts konstruktiv wirken wollen, die die Hoffnung nicht aufgegeben haben, dass Verstand einkehrt bei denen, die die Situation immer noch schönreden wollen. Es wird also Zeit, den Gedankengang „So schlimm kann es ja gar nicht sein, wenn…“ hinter uns zu lassen, wenn wir nicht wollen, dass Menschenverachtung tatsächlich als einzige Maßnahme, zur Kenntnis genommen zu werden, wahrgenommen wird.
Nur, weil sich einer nicht radikalisiert heißt das nicht, dass bei ihm alles „eh nicht so schlimm“ ist. Es heißt nur, dass er sich und die Gesellschaft noch nicht aufgegeben hat.
Und sich erhofft, dass der politische Winter noch abzuwenden ist, obwohl es merklich kälter wird.