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„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, — aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.“ (Friedrich Wilhelm Nietzsche)

Der Amoklauf von München, wie so oft sekundengenau verfolgt, getwittert, gepostet, schon vor Gewissheiten in Grund und Boden analysiert von der Presse, selbstverständlich aus dem hehren Grund der Informationspflicht, er hat das Potenzial, Errungenschaften von Jahrzehnten zunichte zu machen. So lange hatte es gebraucht, psychische Erkrankungen zumindest weitestgehend vom Stigma der Unzurechnungsfähigkeit, des „Irre seins“, des Zweifels am Lebenswert der Betroffenen zu befreien. Nicht, dass die Fortschritte in dem Bereich tatsächlich gefestigt gewesen wären. Depressive, Schizophrene, Psychotiker, Borderliner und alle anderen Erkrankten kannten auch in Zeiten der Aufklärung über mögliche Krankheitsursachen, Traumaforschung, Psychoanalyse, flächendeckender Berichterstattung die Erfahrung, nicht ernstgenommen zu werden, Mensch zweiter Klasse zu sein. Nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern auch im gesellschaftlichen Miteinander. Diejenigen, deren Erkrankungen gar so weit gingen, dass sie zur Arbeitsunfähigkeit führten, lebten in den meisten Fällen mit dem Damoklesschwert der Angst vor Verlust der Existenzgrundlagen im Falle von „unkooperativem Verhalten“, bei Verweigerung von Medikamenten, litten unter normierten Therapieansätzen, die selten mehr zu bieten hatten als das Pochen auf „Tagesstruktur“, waren permanent konfrontiert mit dem Stigma „Faulheit“, die dem gesellschaftskompatiblen Menschen fast noch widerlicher ist, als das Stigma „Verrückt“.

Wie schon im Falle des Piloten Lubitz war auch beim Münchner Amoklauf die Presse in Windeseile dabei, jede Idee der Multikausalität, die zu der Tat geführt haben mochte, jeden relevanten Entwicklungsprozess hin zur Tat außer Acht zu lassen zugunsten der simpelsten Erklärung:

Der Täter war psychisch krank. Depressionen.

Dieser simple Schluss mag solchen Journalisten reichen, die ihrem Job nicht gewachsen sind, die für Lohn und Brot Abgabetermine einhalten müssen oder noch mitten in der Schockstarre im Namen von Klickzahlen und Auflage irgendetwas schreiben wollen und müssen, um die Aktualität ihres Artikels nicht zu gefährden. Und auch, wenn im Anschluss Gegenstimmen erschienen, die vor eben diesen simplen Erklärungsmodellen warnten, wie die Landesärztekammer, die davon Abstand nahm, Depressionen als Auslöser für Amokläufe darzustellen und sich dann später sogar ein paar Journalisten fanden, die sich genötigt sahen, die eigene Zunft zu Recht zu kritisieren.

Es sind eben diese ersten, hysterischen Stimmen, die in den Köpfen haften bleiben. Die Stimmen, die geknüpft sind an Schreckensbilder und Angst. Mensch lernt und verarbeitet Informationen grundsätzlich dann am besten, wenn sie mit Emotionen verknüpft werden. So verhallen die Stimmen, die an Besonnenheit und Vernunft appellieren, die die Vielschichtigkeit von psychischen Erkrankungen zu erklären suchen, die Erklärungsmodelle finden, die nicht so simpel gestrickt sind, dass sie sich auf „Depressionen“ als einzigen Grund für eine derartige Tat ausruhen, ungehört.

Dabei gälte es im Falle einer Depression z.b. zu ergründen, was depressionsauslösend war. Berichten zufolge litt der Amokläufer unter Mobbing. Man muss nicht „krank“ sein, um unter stetem Druck in emotionale Ausnahmezustände zu geraten. Es gälte zudem zu erklären, dass die „Norm“ unter denen, die nicht zur „Norm“ gehören in den meisten Fällen Autoaggressives Verhalten bis hin zum Suizid darstellt. Es gälte, ein individuelles Bild des Täters zu zeichnen, anstatt Millionen Menschen, die teils temporär, teils chronisch an Depressionen erkrankt sind, in Sippenhaftung zu nehmen.

Und es gälte auch, die mediale Berichterstattung als Teil des Problems zu thematisieren. Gerade junge Menschen ohne Perspektive, vorrangig junge Männer, sehen in der Möglichkeit, durch die Medien, die Bilder ihrer möglichen Taten in Großaufnahme, ihren Namen in aller Munde, ihr Bedürfnis nach Größe, nach Bedeutung, nach einer kruden Form der Anerkennung ermöglicht zu sehen. Im Detail bin ich bereits hier darauf eingegangen. Ginge es den Verantwortlichen um Prävention, nicht um Auflage und Klickzahlen, man würde sich in Sachen Berichterstattung, wie schon im Falle des Werther-Effektes bei Suiziden, um mehr Sachlichkeit bemühen und Täteridentitäten möglichst mit Schweigen strafen. Doch wo Ruhm, wie zweifelhaft dieser auch immer sein möge, auf perspektivlose, abgehängte, orientierungslose junge Männer wartet, sind Nachahmer nicht weit.

Welches Resultat die so agierenden Teile der Presse erzielen zeigt sich in einzelnen Leserkommentaren:

„Man sollte nicht legale Waffen, sondern gefährliche Verrückte einsammeln“ (Die Presse, Kommentar)

„Was hier scheinbar gefehlt hat ist, dass man psychisch Erkrankte intensiv auf eine Gefährdung der Allgemeinheit hin überprüft“ (Die Presse, Kommentar)

Und an dieser Stelle muss ich Ihnen schlechte Neuigkeiten überbringen: Der Hang zur Gewalt ist ein Teil menschlicher Natur und damit durchaus „normal“. Ein Randbereich, sicherlich. Aber menschlich und damit nicht auszumerzen, nur, weil man mit dem Finger auf bequeme potenzielle Schuldige zeigt.

Dieses Potenzial kann minimiert werden durch Sicherheiten, Perspektiven, liebevolle Erziehung, ausreichende Bildung, Verständnis und Hilfeleistungen, Inklusion und selbstbestätigende Erfolgserlebnisse, um nur einen winzigen Teil zu nennen.

Es kann maximiert werden durch Verachtung, Mobbing, erfahrene Gewalt, Lieblosigkeit, Mangel an Perspektiven, Ausgrenzung, permanente Misserfolge.

Auch der gesellschaftliche Aspekt spielt eine Rolle: Welchen Wert lassen wir Menschen zukommen, die scheitern, die nicht funktionieren, die anders sind. Wie behandeln wir Menschen, die sich ohnmächtig fühlen oder wahlweise ein ungesundes Machtstreben an den Tag legen? Bieten wir Hilfe an? Stigmatisieren wir und treiben in die Enge?

In einem kleinen Blogbeitrag ist kaum Platz für das Ausmaß an Informationen das es bräuchte, um über die Komplexität des Menschlichen, über die vielen kleinen und großen Auslöser, die zu kleinsten Straftaten bis größten Amokläufen führen können auch nur annähernd ausreichend Auskunft zu geben.

Hier wären Sie gefragt: Glauben Sie nicht denen, die Ihnen simple Antworten bieten. Lesen Sie mehr als Überschriften und Schlagzeilen, mehr als Live-Ticker und längengenormte Beiträge zur Thematik. Die Frage nach menschlichem Gewaltpotenzial, nach Gewaltentstehung treibt uns nicht erst seit heute um. Sie ist Teil der Anthropologie, Primatenforschung, Teil der Neurowissenschaften, ewiger Diskurs zwischen Anhängern genetischen Determinismus‘ und Verfechtern des freien Willens. Teil der Soziologie, Psychiatrie. Teil philosophischer Überlegungen. Sie ist nicht herunterzubrechen auf: „Der Irre ist schuld“, „Der Islam ist schuld“.

Und täuschen Sie sich nicht: Nicht wenige Wissenschaftler gehen davon aus, dass jeder im Zweifel dazu bereit sein könnte, zu töten. Dass wir, neben selbstbestimmten Wesen eben doch auch Produkt unserer Umwelt sind. Dass unser Überlebenstrieb ebenso relevant ist, wie unser Wille zu Kooperation, der nur dann gebrochen wird, wenn wir keinen eigenen Vorteil mehr erhoffen dürfen. Zum Anteil der Gesellschaft gehören langfristige Entwicklungen wie dauerhaftes Mobbing, Druck, Angst, Not, Hunger wie auch politische Entwicklungen.

Auch Einflussnahme durch Populisten und Ideologen. So schrieb ein lieber Facebookfreund, Axel Hegmann, über seinen Vater:

"Ja: Man kann 18-jährige dazu bringen, einem Priester, der seine Hauptaufgabe darin sah, muslimischen Geflüchteten zu helfen, öffentlich die Kehle durchzuschneiden. Man kann ebenso 18- jährige dazu bringen, die AfD zu mögen (und Killerspiele und Amokläufe) und diese dann selbst in München zu praktizieren. Mein heute 91-jähriger Vater war auch 18, als er, wie durch ein Wunder, 1943 nicht nach Russland geschickt wurde, sondern nach Frankreich.

Er, so sagt er, hätte vielleicht auch als 18-jähriger mit Gewehr ins Genick Juden in eine Grube schießen müssen. Und er weiß heute noch nicht, ob er nicht damals davon ausgegangen wäre, es für richtig zu halten. Sein genauer Wortlaut:

"Hatte ich ein Glück, nicht nach Russland zu müssen? Was weiß ich, was ich gemacht hätte, wenn ich als junger Soldat zu einer Erschießung abkommandiert worden wäre?"

Kein Mensch ist eine Insel. Und auch psychische Erkrankungen und ihre Ausprägungen sind so vielfältig und so wenig zu normieren, wie das Leben und Erleben jedes Einzelnen, der sich für „normal“ hält, nur, weil es bei ihm zu besserer Anpassungsfähigkeit an die derzeitigen gesellschaftlichen Anforderungen gereicht hat, seine Lebensumstände privilegierter waren, das soziale Netz mehr Halt bot.

Kein Mensch schießt, weil er an Depressionen leidet. Er schießt, weil das, was ihn depressiv gemacht hat plus eine Prädisposition, plus eine gesellschaftliche Grundstimmung, plus Umstände, von denen wir meist nichts wissen, zu einer Verkettung der Umstände geführt hat, die seinen Entschluss gefestigt haben, dass selbst der Verlust des eigenen Lebens nicht mehr wert ist, umzudenken.

Er schießt auch nicht wegen eines Computerspiels, das Millionen spielen, ohne zum Amokläufer zu werden.

Ich möchte an dieser Stelle den Journalisten Bernhard Torsch zitieren, dessen Blog „Der Lindwurm“ ich ans Herz legen möchte:

„Es ist offenbar auch für Journalisten zu viel verlangt zu begreifen, dass nicht psychische Krankheiten zu Gewalt führen, sondern Gewalttätigkeit. Und dass das nicht dasselbe ist.“

Nebenbei ist es zudem nicht sonderlich hilfreich, wenn neben emotionalisierter, hysterischer Berichterstattung z.b. die Tagesschau am 24.07 aus hehren journalistischen Interessen erklärt, dass man im Darknet an die Waffen für ein solches Vorhaben kommt (Theaterwaffen, die man mit wenigen Handgriffen wieder funktionsfähig bekäme, wie mir dort haarklein erklärte). Ein Fest für potenzielle Nachahmer.

Dass Bedürfnis der Mehrheit nach Sicherheit ist verständlich. Eine 100%ige Sicherheit jedoch kann es nicht geben. Das Risiko ist ein Teil freiheitlichen Lebens. Und im Gegensatz zu Politikerbeteuerungen, blindem Aktionismus und dem Ego-Bedürfnis, dem Wähler möglichst Handlungsfähigkeit vorzuspielen, erhöht mehr Überwachung, erhöht das Wegsperren der „Irren“, die Stigmatisierung, mehr Kontrolle nicht die Sicherheit. Sie nimmt nur allen Gleichermaßen die Freiheit zur Selbstentfaltung. Gerade weil Gewalt ein Teil der menschlichen Natur ist, weil emotionale Ausnahmezustände zwar nicht die Regel, doch in jedem angelegt sind, wird sie auch immer Teil unseres Zusammenlebens sein. Alles was wir im Griff haben ist, ob wir die Gesellschaft so gestalten, dass Menschen aus Angst vor Erkrankung, vor ihren eigenen Ausnahmezuständen lieber den Mund halten bis zur Eskalation, oder ob wir weiter an einer offenen Gesellschaft arbeiten, die Raum lässt, um anders mit den verschiedenen Nuancen von „Normalität“ umzugehen. Ein Ausmerzen dieser empfundenen „Fehlerhaftigkeit“ wird nicht funktionieren, weil sie ein Teil der menschlichen Natur ist.

Auch Frau Gesine Palmer möchte ich hier zitieren:

„Wenn diese ganzen Schrecken ein Gutes haben, dann das, dass sie die kulturelle Beschränktheit dessen, was sich hier als "psychologische Wissenschaft" aufspielt, gnadenlos vorführen.“

So waren sich selbst einige Psychiater nicht zu schade dafür, Statements vor Kameras abzugeben, die verkürzt psychische Krankheiten und Amok in Verbindung brachten. Wider besseren Wissens, wider ihre Verpflichtung, das Wohl all ihrer Patienten im Auge zu behalten. Menschen, die sich eigentlich mit der zunehmenden Pathologisierung von emotionalen Ausnahmezuständen beschäftigt haben sollten. So wollte eine Vereinigung von Psychiaterinnen und Psychiatern in der Vergangenheit schon mal „Trauer“ pathologisieren und damit zur behandlungsbedürftigen „Krankheit“ erklären.

Diese Rolle rückwärts, zurück zur Stigmatisierung der „Irren“, zum Sündenbock und Antagonisten des Bedürfnisses nach unumstößlicher Sicherheit, passt in das Klima dieser Tage, in dem sich alle freiheitlichen und sozialen Errungenschaften zurückentwickeln auf ein Niveau von vor gut 80 Jahren.

Und Sie, die Sie sich für „normal“ halten? Vergessen Sie nicht, dass diese Idee der Normierung nichts Anderes ist, als eine Mehrheitsidee, die morgen schon anders aussehen kann. Das Leben kann auch Ihnen schon morgen Lasten aufnötigen, die Ihre Ideen von „Normalität“ ad absurdum führen. Auch Sie könnten schon in naher Zukunft geballt mit Situationen konfrontiert werden, die sie an den Rand Ihrer Belastbarkeit führen. Wir entscheiden im Augenblick mit unserem Diskurs darüber, ob Sie dies versteckt und heimlich erleben müssen, in Angst vor Ihrem Nachbarn, der Sie damit möglicherweise für gefährlich halten könnte, ob Sie Angst vor Existenzverlust, Verlust von Ansehen, Zwangseinweisung, oder ob Sie Hilfe erfahren dürfen, die Sie nicht entmündigt und entrechtet.

Und, wie beinahe immer noch einige ergänzende Sätze, seitdem die (selbstverständlich ganz und gar nicht pathologische) „Angst“ vor Fremden um sich greift:

Dass die Presse nicht nur in schöner Regelmäßigkeit verkürzt auf psychische Erkrankungen zwanghaft hinweist, sondern auch den Hinweis darauf, dass es sich beim Amokläufer in München um einen „Deutsch-Iraner“ handele, ist an Verantwortungslosigkeit nicht mehr zu überbieten.

Das für relevant zu halten bei einem Menschen, der hier geboren und aufgewachsen, hier sozialisiert wurde und bei seinem Amoklauf neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen hat, ist blanker Rassismus.

Sonst nichts.

Zudem weiß nun jeder, dass diese Form der Berichterstattung Munition für rechte Deppen ist. Schreibt man nicht "Deutscher“, sondern "Deutsch-Iraner" ist die Sippenhaftung nicht weit, mindestens jeder Flüchtling potenzieller Attentäter/Amokläufer und die Idee, "Deutsche täten so etwas nicht" weiter zementiert.

Zur weiterführenden Information, die der Presse dabei wohl ganz versehentlich aus dem Blickfeld geriet: Ein Großteil der Amokläufe in Deutschland in den letzten Jahrzehnten ist von Deutschen begangen worden.

Dieser Blogbeitrag ist lang geraten. Und doch nicht lang genug, um die Komplexität der Problematik „psychische Erkrankung / Depression“ oder „Ursachen für Amokläufe“ auch nur annähernd ausreichend zu beleuchten. Ein Journalist der glaubt, dies in noch weniger Worten, auf noch weniger Raum mit verkürzten Antworten zu dürfen und zu können, der handelt grob fahrlässig gegen alle Betroffenen und wider besseren Wissens.

„In unserer verrückten Gesellschaft ist es ganz normal, dass sogar normale Menschen verrückt spielen.“ (Ernst Ferstl, österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker)

Ich möchte mir an dieser Stelle auch noch einmal die Freiheit rausnehmen und auf meine Serie "Reden wir über..." aufmerksam zu machen. Hier sollen physisch und psychisch Erkrankte zu Wort kommen und mit ihrem Erfahrungsbericht zur Ent-Stigmatisierung beitragen. Jeder dieser Erfahrungsberichte wiegt (zumindest für mich) jedesmal mehr, als theoretisches Geplänkel von Journalisten, die sachfremd ihre Meinung zum Besten geben. Wer für ein Interview bereit wäre, um seine Stimme gegen den neuen öffentlichen Diskurs zu erheben, möge sich hier informieren und mich gerne anschreiben.

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