LESEEMPFEHLUNG: NANCY ISENBERG, „WHITE TRASH – THE 400-YEAR UNTOLD HISTORY OF CLASS IN AMERICA“

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Die Themen „Klassenidentät, Klassengeschichte, Klassenkampf“ werden heute gerne als Überbleibsel linker Ideologien belächelt oder das Aufgreifen eben dieser zu bloßem Populismus erklärt, wenn politisch rechte Hardliner sich dieser Thematik annehmen. „Die Mitte“ ist sich weitgehend sicher und propagiert eben dies in weiten Teilen: Der Kapitalismus, Rechtsstaatlichkeit, hier in Deutschland auch das Bekenntnis zur „sozialen Marktwirtschaft“ hätten das Klassengefüge weitestgehend aufgehoben, soziale Mobilität breiten Teilen der Gesellschaft ermöglicht.

Wie sehr unsere heutige Lebensweise, unsere Ideen von Menschenwert, unsere Sprache, Erbrecht und damit Chancenrecht, noch immer von der Geburt abhängen und damit beständig den vergangenen Mustern folgen, wird mit Lektüre des Buches ersichtlich, ohne dass Isenberg jemals diesen Vergleich anstreben oder belehrend den Zeigefinger erheben würde. Dabei ist es auch gleich, dass das Buch vorrangig amerikanische Klassengeschichte beleuchtet, denn schnell wird klar: Die Basisidee ist europäisch, importiert durch die ersten Siedler. Amerika hat sich nicht neu erfunden. Europa erfand Amerika. Das Märchen einer klassenlosen Gesellschaft.

Das äußerst lesenswerte Buch , bis auf Vorwort und Nachwort betont sachlich und ohne persönliche Einlassungen der Autorin gehalten, um Fakten bemüht, mit reichlich Hintergrundwissen und mithilfe zahlreicher Quellentexte sorgfältig erarbeitet, unterstreicht zudem die Relevanz der Rhetorik im Klassendiskurs schon bei der Titelauswahl: „White Trash“. Wer hier reine Provokation zu Vermarktungszwecken vermutet, der wird im Laufe der Lektüre eines Besseren belehrt und lernt verstehen, dass „White Trash“, also „Weißer Müll“ mitnichten als Zuspitzung zu verstehen ist, reine Polemik von Isenberg. „White Trash“ steht vielmehr stellvertretend für einen von zahlreichen Begriffen für ein weißes Prekariat; für den Umgang mit einer Schicht, die das Selbstverständnis einer gesamten Nation bedroht und allein deshalb schon mit Verachtung in Form rhetorischer Abwertung gestraft wird. So bietet dieses Buch nicht nur einen Blick auf die Klassengeschichte Amerikas, sondern mit ihm auch tiefgreifende Einsichten zu den Entwicklungen eines, immer auch rhetorisch geführten, Klassenkampfes, der über die Jahrhunderte bis heute das Verhältnis der Gesellschaftsschichten zueinander geprägt hat.

Wir erfahren, wie sehr das frühe Amerika, dessen Gründerväter die aristokratischen Ideen der Klassenhierarchie Englands noch verinnerlicht hatten, diese auch nach der Trennung vom Königreich noch lebten. Ein Grund der Besiedelung des „neuen Kontinents“ war es, die Armen, „Human Waste“, aus England zu vertreiben, Platz in der Heimat zu schaffen, um sie Übersee einem Nutzen zuzuführen, den die heimische Ökonomie nicht mehr bot, oder sie wenigstens aus den Städten zu vertreiben, in denen sie kaum mehr geduldet wurden. Wie es John White in „The Planters Plea“ ausdrückte: „Colonies ought to be Emunctories or Sinkes of States; to drayne away the filth.“ (S. 17) Amerika schien das zu bieten, was England so dringend fehlte: Land. Und mit ihm Wachstums, Ausbau der ökonomischen Möglichkeiten, Arbeit für alle. Und vor allem die Möglichkeit, den „Schmutz“ aus den Städten zu entfernen und einem Nutzen zuzuführen.

Schon die Verteilung des Landes, teils vor Ort, teils aus der Ferne Englands verwaltet, gründete auf alten Hierarchien und beließ die Armen in ihrem Status als „Waste“, „filth“ und „rubbish“. Sie durften auf kaum mehr hoffen, als auf Sklavenrang, den sie auch an ihre Kinder weitergaben.

Wie Isenberg anmerkt, waren die Engländer besessen von dem Ausdruck „Waste“. Ein Begriff, der übersetzt viele Facetten beinhaltet. „Vergeudung“ ebenso wie „Müll“, „Ausschuss“, „Abfall“. (S.19) Amerika war „Wasteland“, ungenutztes Land.

„Waste was there to be treated, and then exploited. Waste was wealth as yet unrealized.“ (John Smith) Diese Definition bezog sch auf Mensch und Land. Es galt den Engländern, ungenutzte Menschen, wie auch ungenutztes Land, nutzbar zu machen. Zugleich legte er den Wert bestimmter Menschen fest und festigte Klassenbewusstsein.

Die ersten Kolonien waren Feldversuche, umgesetzte Theorien, die sich als mal mehr, mal weniger tauglich erwiesen. Roanoke und Jamestown litten an Fehlentscheidungen, Zwangsarbeit, Todesstrafe, einem Mangel an Frauen, aber auch daran, dass von den vielen Männern, die man zur Arbeit vor Ort verschifft hatte, viele keine Ahnung vom Fällen von Bäumen oder der Farmarbeit hatten.

Der Einzug von Tabak als Nutzpflanze durch John Rolfe (S.25) verhalf schließlich zu einer wachsenden Ökonomie. Tabak erzielte hohe Preise und galt vielen als „neues Gold“, sorgte damit aber für eine Verschärfung der Klassenidee vor Ort. Ein Handel mit Sklaven begann. Damals noch vorrangig „indentured servants“, Menschen, die durch eine Schuld gebunden waren, wurden für Geld gehandelt und verkauft.

Der angeblich niedere Mensch, „Offscouring of the earth“, schon mit Beginn der Besiedelung mit Land und Vieh gleichgesetzt, das einem Nutzen zugeführt werden muss, erfährt nun schon durch seine Benennung die „Klassifikation“. Eingeschiffte Frauen wurden als fruchtbar oder „verdorbene Ware“ (S.28) („Corrupt“) eingestuft, Männer an ihrer Arbeitsfähigkeit gemessen. Theoretisch standen unter den Leibeigenen kurz darauf nur in Kriegen gefangengenommene Indianer und „die Fremden“ (S.30), aus anderen Kolonien importierte Schwarze.

Praktisch jedoch standen weiße und schwarze Sklaven oft auf einer Stufe, waren kaum mehr als Eigentum und der Arbeit verpflichtet, aus der es kein Entkommen gab, außer dem Tod.

So wie die Aristokraten ihre Rechte durch Erb- und Blutideologie gerechtfertigt sahen, galt diese Weitergabe des eigenen Wertes, gemessen an den Erbanlagen, auch für die Kinder von Sklaven und Schuldnern. Kinder und Frauen wurden zur Arbeit herangezogen, sollte der Schuldner vor Tilgung seiner Schulden sterben. Ein Kreislauf, aus dem es kein Entkommen gab. Zumal jeder Wohlstand seit Gründung der ersten Kolonien an, an Land und Eigentum, Nutzvieh und Sklaven geknüpft war. Ein Mensch ohne Land war ein Mensch ohne Wert. So bildete sich früh ein Klassensystem heraus, das Wenigen ermöglichte, hunderte von Sklaven zu halten und durch Handel den Landbesitz zu erweitern, während ein Großteil der Bevölkerung darben musste. Arm blieb arm.

Selbst mit der geschichtsträchtigen Ausformulierung von Menschenrechten durch Jefferson in der „Declaration of Independance“ – „All men are created equal“ – war in keiner Form erwünscht oder geplant, demokratische Rechte allen zugängig zu machen. Vielmehr ging es um die privilegierte Klasse der Grundbesitzer – weiße Männer. Jefferson selbst darf als Befürworter einer Ideologie gesehen werden, die den Gedanken, reines Blut zu züchten und Menschen in Klassensysteme einzuordnen, stützte. Von Jefferson stammt u.a. folgender Satz: „The circumstance of superior beauty is thought worthy of attention in the propagation of our horses, dogs and other domestic animals: why not in that of man?“ Umfassende Demokratie, die den Leibeigenen das Recht politischer Mitsprache ermöglicht hätte, wurde als Bedrohung für das, von Landbesitzern als funktionierend angesehene, Klassensystem gesehen. Und doch darf man gerade an diesem Satz, „All men are created equal“, heute wieder die Macht der Worte feststellen, wenn eine Neudeutung, respektive eine Ausweitung dieses Grundrechts auf alle, als Leitfaden einer Idee von Menschenrechten wirkt.

Benjamin Franklin verdammte die Sklaverei. Jedoch nicht um der Menschenrechte willen, sondern weil seiner Meinung nach Sklaverei die schlechtesten Eigenschaften in den „Engländern“ hervorrief. „Slavery made Englishmen idle and impotent…They become proud, disgusted with Labour and (are) being educated in Idleness, are rendered unfit to get a Living by Industry.“ (S. 68) Die Idee von „Free Labor“ war nicht das Resultat einer Menschenrechtsidee sondern Ergebnis der Überlegung, Weiße würden Arbeit verabscheuen lernen, so ihnen diese abgenommen würde. Auch dieser Gedankengang war es, der das Nord-Süd-Gefälle Amerikas begründete, im Laufe dessen eine „Free Labor Zone“ im Norden entstand. Im Süden hielt man hingegen an Sklaverei fest. Diese sei wirtschaftlich effektiver. Zudem würde sie nicht Weiße mit Sklaven gleichstellen. Zeitgleich warnte eine besorgte Elite vor „Poor Whites“. Man solle sie beobachten und kontrollieren, ihnen so wenig wie möglich politische Freiheit zugestehen ohne sie zu menschenunwürdig zu behandeln. (S. 161) Diese seien „neidisch auf die Reichen (S. 160) und würden mit dem Versprechen von Freiheit „unheilige Bedürfnisse“ entwickeln, zu denen man „Social Mobility“ zählte. Man sah die eigene, privilegierte Klasse gefährdet und zog mit, den eigenen Bedürfnissen angepasster, Propaganda, in den Bürgerkrieg.

Wie so oft in der Geschichte verhalf Rhetorik den Sklavenhaltern in vielerlei Hinsicht zur Selbstrechtfertigung. Entmenschlichung durch Sprache erlaubte, einen Menschen nicht mehr als Menschen zu sehen und ihm somit die Rechte verweigern zu können, die einem vollwertigen Menschen zustehen müssten. Die entwertende Sprache, zuerst auf den alten Ideen einer göttlichen Berufung des Königs und damit gottgewollten Hierarchien fußend, erfuhr eine neue Blütezeit mit Einzug des Darwinismus. „Survival of the fittest“ wurde nach Gutdünken gedeutet und diente Intellektuellen wie auch Herrschenden zur Legitimation des bestehenden Klassensystems. Mithilfe dieser Ideen erlebte auch die Eugenik ihren Siegeszug. Die Idee der Zucht reinen, überlegenen Blutes bestimmte lange das Denken derjenigen, die sich selber für „superior“ hielten.

Wie wenig wissenschaftlich die Argumentation tatsächlich war, zeigt der Mangel an Studien, die „Inbreeds“ der gleichen Erziehung ausgesetzt hätten, den gleichen Chancen, den gleichen physischen Möglichkeiten wie Ernährung und Eindämmung harter Arbeit oder gar hygienischen Bedingungen.

Über all die Jahrhunderte diente Sprache Macht und Machterhalt (Legitimation durch Sprache), der Ausübung von Gewalt (Abwertung durch Sprache) und Propaganda (Selbstreferenzielle Bewerbung des Ist-Zustandes als einzig sinnvolle Option. U.a. massiv betrieben vor dem Bürgerkrieg). Seitdem Wahlkampf stattfand, wurde zudem um Stimmen geworben. Der Wahlausgang hing nicht selten an der Frage der Sprache, die der Kandidat wählte. Es galt, als einer aus dem Volke aufzutreten, während zeitgleich die Bedürfnisse der Landeigentümer nach klaren Klassenstrukturen nicht angetastet wurde.

Bis hinein ins 20te Jahrhundert, in dem erste Stimmen laut wurden, die Sozialdarwinismus und Zuchtideen in Frage stellten, wie die von Du Bois, (S.174), der in den Raum stellte, „White rule had corrupted the normal course of evolution. Instead of allowing the best (whether black or white) to rise, racism had actually undermined the Darwinian argument. It had not only NOT improved the withe race, but a false hegemony had led to the survival of some of the worst stocks of mankind.“ stellte kaum jemand die Klassenidee in Frage.

Das aufkeimende Civil-Rights-Movement Mitte des 20ten Jahrhunderts ist nicht umsonst begleitet von Political Correctness. Die Forderung, sich nicht „Nigger“, „Bastard“, „Mulatto“, „Inbred“, „Trash“, „Offscourings“ „Low-Downer, „White Nigger, Degenerate, White Trash, Redneck, Trailer Trash, Swamp people.“ nennen lassen zu müssen schließt daran an, zudem nicht entsprechend behandelt zu werden. Nicht durch Benennung ein Mensch geringerer Klasse zu werden, stigmatisiert für die simple Tatsache des Geburtenzufalls.

Und nicht zufällig werden auch heute wieder Stimmen laut die fordern, man müsse bestimmte Dinge wieder sagen dürfen. Doch entgegen dieser Stimmen geht es bei Political Correctness eben nicht um Zensur, sondern um das Recht des Individuums, menschenwürdig benannt zu werden, um die Idee „All men are created equal“ irgendwann doch Realität werden zu lassen.

Gesellschaft ist Kommunikation. Kommunikation erfordert Konsens. Je breiter die Ablehnung gegen stigmatisierende Sprache und stigmatisierendes Handeln, desto wirksamer der Widerstand. Auch heute noch existiert hier wie in Amerika das Klassengefüge. Wie auch Isenberg bemerkt, hat sich der aristokratische Gedanke insofern verschoben, als dass er heute noch mehr als damals den finanziellen Background in den Fordergrund stellt. Doch auch heute noch sind Bildung und Wohlstand vorrangig Erbrecht. So kann uns das Buch lehren, ein Klassenbewusstsein zu entwickeln und ein Verständnis dafür, dass auch heute noch Armut oft vorrangig mit dem Vorwurf des Eigenverschuldens behaftet ist, auch heute noch Menschen gefeiert werden für ihre Herkunft mehr als für ihre Leistung. Wir haben den Klassenkampf nicht hinter uns gelassen. Auch nicht die Rhetorik, die z.b. hierzulande für die Einstufung „asozial“ sorgte. Wir könnten aber, mit Blick auf die Geschichte, lernen, uns nicht der Idee zu beugen, die Lyndon Johnson (S. 315) von sich gab:

„If you can convince the lowest white man he’s better than the best colored man, he won’t notice you’re picking his pocket. Hell, give him someody to look down on, and he’ll empty his pockets for you.“

(Nancy Isenberg, „White Trash. The 400-Year Untold History of Class in America, Penguin Books 2016 / ISBN 9780143129677 – Paperback Edition)

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