Die Nacht begann mit einem Paukenschlag:
„Putschversuch in der Türkei“ konnte man lesen. Kurze Sondersendungen informierten darüber, dass nach bisherigem Erkenntnisstand Teile des Militärs den Sender TRT gestürmt hätten, Flughäfen besetzt hielten, dass Kriegsrecht ausgerufen und eine Ausgehsperre verhängt hätten. Über das Staatsfernsehen TRT ließen die Putschisten die Erklärung verlautbaren, dass eine "Machtübernahme zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit" geplant sei. Ein „Friedensrat“ solle vorerst allen Bürgern in der Türkei, „unabhängig von Rasse, Religion und Sprache“ Freiheit garantieren. (Quelle „Standard Live-Feed“). Mehr war bis dahin nicht bekannt. Spekuliert wurde viel, während immer wieder von Schüssen berichtet wurde.
Erdogan, zum Zeitpunkt des Putsches in Marmaris urlauben, rief umgehend seine Unterstützer zu Demonstrationen gegen den Putschversuch auf. Explosionen im Parlament folgten Aufstände von Erdogan – Treuen. Social – Media – Kanäle fielen (selbstverständlich unerklärlicherweise) aus.
Die türkische Regierung war schnell dabei, den Putsch für gescheitert zu erklären. Ministerpräsident Yildirim erklärte die Lage für „unter Kontrolle“. Und Erdogan selber, zurück vor Ort, ließ sich nicht nehmen, sich via TV inmitten seiner Anhänger zu präsentieren und zu erklären, die „Säuberung des Militärs“ von Laizisten fortsetzen zu wollen. Auch erklärte er, er erwäge die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Ganz unbeeindruckt von Recht und Gesetz werden Berichte über Lynchjustiz an Putschisten laut.
„Während des Putschversuchs in der Nacht zu Samstag sollen nach unbestätigten Berichten womöglich Soldaten misshandelt oder sogar gelyncht worden sein. Auf einem Video, das offenbar auf einer der Bosporus-Brücken in Istanbul aufgenommen wurde, ist ein Soldat zu sehen, der blutüberströmt auf dem Boden liegt. Derjenige, der das Video aufnimmt, sagt auf Türkisch: "Vier haben wir umgebracht, jetzt sind wir beim fünften. Hund!" Schüsse sind zu hören. Andere rufen "Gott ist groß", "Ungläubiger!" und "Krepier!". Mehrere treten auf den leblos wirkenden Körper ein. Das Video wurde via Twitter verbreitet.
Die dem Militär nahestehende Zeitung "Sözcü" berichtete am Samstag, ein aufgebrachter Mob habe einem Soldaten in Istanbul die Kehle durchgeschnitten. Regierungskreise bestätigten den Bericht zunächst nicht. Auf weiteren Aufnahmen ist zu sehen, wie Putschgegner einen Panzer umzingeln. Ein Demonstrant steigt auf das Dach und tritt auf den Soldaten in der Luke ein. Stimmen sind zu hören, die auf Türkisch rufen: "Schlag ihn! Schlag ihn!" Andere flehen: "Das ist ein Soldat! Hört auf!" Ein Polizist eilt dem Soldaten schließlich zur Hilfe.“ (Quelle „Stern“)
Erdogan nutzt die Gunst der Stunde, die eigene Übermacht zu demonstrieren und entlässt, nicht zum ersten Mal, Richter. Genau genommen sind mehr als 2700 Richter abgesetzt worden. Zudem wurden fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte in Ankara vom Dienst entbunden. Erdogan ließ sich hinreißen zu der Aussage, der Aufstand sei „ein Geschenk Gottes“, das dafür sorgen würde, dass die Streitkräfte gesäubert würden, machte umgehend Ernst mit dem Entsorgen unliebsamer demokratischer Restbestände und fast könnte man geneigt sein denen zuzuhören, die von einem inszenierten Putsch sprechen.
Denn schon von Beginn an war klar, dass der Putsch kaum Aussichten auf Erfolg haben würde. Nicht nur, weil er nur Teile des Militärs hinter sich wusste. Erdogans Macht fußt nicht nur auf Unterstützung durch Teile des Militärs oder die AKP. Er fußt auch auf einer immer populäreren Idee von „starken Männern“ an der Spitze, von der „Rückkehr zu alten Werten“, in der Türkei in Form eines konservativen Islamismus‘, der Frauen wieder unter Kopftüchern sehen möchte und als Versprechen für Gehorsam und Unterwerfung unter Autokratie wirtschaftliche Zugewinne und Nationalstolz zu versprechen weiß. Die Zugkraft der „starken Männer“, die Angst vor Unsicherheiten und Verantwortung aus eigenen Freiheiten, sie ist nicht nur in der Türkei ungebrochen.
Dieser groben Zusammenfassung der Ereignisse soll jedoch nun vor allem die zahlreichen Reaktionen hierzulande, von Presse, Journalisten, Politikern, Regierung folgen.
Denn geschlossen war der Chor derer, die das Niederschlagen des Putsches bejubelten und kein Wort verloren über die Ursachen, keines über die Lynchjustiz, keines über die Entlassung von Richtern über den Putsch Erdogans gegen Demokratie von innen.
Eine Auswahl der Stimmen:
"Europaparlaments-Präsident Martin Schulz: „Ich begrüße, dass an diesem Morgen wieder die Herrschaft des Rechts gilt“, twitterte er. Das Blutvergießen müsse nun vollständig enden, die Gewaltenteilung gewährleistet sowie individuelle Rechte garantiert werden. „Die Stabilität des Landes ist entscheidend für die gesamte Region“, sagte Schulz weiter."
„Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußert sich „zutiefst beunruhigt“ über den Putschversuch. „Alle Versuche, die demokratische Grundordnung der Türkei mit Gewalt zu verändern, verurteile ich auf das Schärfste“, sagte Steinmeier in einer ersten offiziellen Reaktion am Samstag in Berlin. Zugleich rief er „alle Beteiligten“ dazu auf, die demokratischen Institutionen und die Verfassung zu achten. „Alle Verantwortlichen müssen sich an die demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln halten und dafür sorgen, dass weiteres Blutvergießen verhindert wird.“
„Frankreich hofft, dass die türkische Demokratie gestärkt aus der Herausforderung durch den Putschversuch hervorgeht. Die türkische Bevölkerung habe sich als „mündig und mutig“ erwiesen, sagt Außenminister Jean-Marc Ayrault.“
„…Zuvor hatte der griechische Ministerpräsident der türkischen Regierung die Unterstützung seines Landes zugesichert. „Die Regierung und das griechische Volk verfolgen die Entwicklung in der Türkei und stehen an der Seite von Demokratie und Verfassungsordnung“, twitterte Tsipras. Man habe den Amtskollegen des Nachbarlandes eine entsprechende Nachricht zukommen lassen, sagte Regierungssprecherin Olga Gerovasili dem staatlichen Nachrichtensender ERT: „Athen unterstützt die demokratisch gewählte Regierung der Türkei.“
„…Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg lobt den Widerstand der türkischen Bevölkerung und Politik und den Einsatz für die Demokratie. „Ich begrüße die starke Unterstützung, die die Menschen und alle politischen Parteien für die Demokratie und die demokratisch gewählte Regierung der Türkei gezeigt haben“, twittert er.“
„Italiens Regierungschef Matteo Renzi zeigt sich erleichtert über das Scheitern des Putschversuches in der Türkei. „Die Sorge über eine außer Kontrolle geratene Situation in einem Nato-Partnerland wie der Türkei weicht dem Sieg der Stabilität und der demokratischen Institutionen“, sagte er laut der Nachrichtenagentur Ansa. „Freiheit und Demokratie sind immer der Königsweg, den es zu verfolgen und zu schützen gilt“, ergänzte er.“
„Nach Einschätzung von US-Außenminister John Kerry sind in der Türkei Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Er sichert der demokratischen Regierung Unterstützung zu.“
Die französische Regierung hat den Putschversuch in der Türkei verurteilt. „Die Türkei wurde Ziel eines versuchten Gewaltstreichs gegen ihre verfassungsmäßige Ordnung, was Frankreich aufs heftigste verurteilt“, sagte Außenminister Jean-Marc Ayrault am Samstag. „Die türkische Bevölkerung hat ihre große Reife und ihren Mut bewiesen, indem sie sich für den Respekt der Institutionen einsetzte“
„Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den Putschversuch in der Türkei „aufs Schärfste“ verurteilt. „Es ist tragisch, dass so viele Menschen diesen Putschversuch mit dem Leben bezahlt haben. Das Blutvergießen in der Türkei muss jetzt ein Ende haben“, sagte Merkel am Samstag in Berlin. „Es ist und bleibt das Recht des Volkes, in freien Wahlen zu bestimmen, wer es regiert. (...) Panzer auf den Straßen und Luftangriffe gegen die eigene Bevölkerung sind Unrecht“, erklärte sie weiter.“
Den Lobhudeleien der türkischen „Demokratie“ und deren Sieg über die Putschisten schlossen sich u.a. auch der von mir sonst geschätzte Alan Posener, Journalist der „ die Welt“ an, Gregor Gysi, Özdemir, Göring-Eckardt, Heiko Maas, um nur einige zu nennen.
Sie alle lassen ein Demokratieverständnis erkennen, das erschauern lässt.
Die Reduktion der Demokratie auf die Legitimation durch turnusmäßige Wahlen lässt befürchten, dass es mit der Demokratie selbst in den Köpfen der Volksvertreter Europas nicht allzu weit her ist.
Denn selbstverständlich wird aus einem Autokraten noch kein Demokrat, weil ihn eine Mehrheit wählt. Selbstverständlich wird aus einem Faschisten kein Demokrat, weil eine Mehrheit ihn wählt. Selbstverständlich wird eine Diktatur ebenso wenig wie eine Autokratie zur Demokratie, weil eine Mehrheit ihre Stimme abgibt. (Was ja hierzulande gerne mal begriffen wird, wenn die AfD oder die NPD sich aufmachen, Mehrheiten zu gewinnen, während sie mit Verfassungsänderungen drohen, mit Schießbefehlen hantieren, Minderheitenrechte beschneiden wollen.)
Legitimation durch Wahlen sind nur ein Bruchteil dessen, was eine Demokratie zur Demokratie werden lässt. Der Rest sind unter anderem die Gewaltenteilung, schon in der Vergangenheit durch Erdogan unterwandert und nur vom Verfassungsgericht noch, und hier liegt die Betonung auf „noch“, eingedämmt. Da wurden unliebsame Richter entsorgt, Staatsanwälte entlassen. Demokratie ist freie Presse, denn freie Wahlen kann es nicht geben ohne breite Aufklärung der Bürger über die Vorgänge innerhalb der Regierung. Auch hier steht es schlecht um die Türkei, ebenfalls dank Erdogan. Kritische Journalisten müssen empfindliche Haftstrafen befürchten. Über den Fall Dündar und Gül habe ich in der Vergangenheit bereits hier geschrieben. Ein weiterer Grundpfeiler der Demokratie ist auch, Minderheitenrechte zu wahren. Auch Nichtwähler und Wähler anderer Parteien und Ideen haben ein Recht auf Rechte, Wahrnehmung ihrer Interessen. Und selbstverständlich gehört zur Demokratie auch eine Opposition, die mit den gleichen Rechten ausgestattet ist. Nichts davon ist in der Türkei mehr selbstverständlich. Wie also europäische Volksvertreter und Journalisten fast geschlossen auf den Gedanken kommen, hier sei die „Demokratische Ordnung“ gewahrt worden, wird mir persönlich wohl für alle Zeiten ein Rätsel bleiben müssen.
Vielleicht ist hier auch weniger die Freude über Demokratie im Spiel als vielmehr das eigene egoistische Bestreben, vor allem die eigene "Sicherheit" wieder herzustellen. Denn was muss einen ein unschuldig inhaftierter Journalist in der Türkei kümmern, wenn man hierzulande in Frieden seine Meinung dazu zum Besten geben kann? Hauptsache der eigene. ideologisch getünchte, kleine weiße Gartenzaun kriegt keine Schrammen ab. Oder: Was kümmert mich das Unrecht an anderen, solange es meine Bequemlichkeit nicht gefährdet.
Ich schäme mich für dieses Land, für Europa, für diese Haltung, diese Aussagen. Wir sind in der Vergangenheit schon zu feige gewesen, Rückgrat und Haltung zu zeigen, als Teile der Opposition entrechtet und Journalisten reihenweise verhaftet wurden und immer nochist kein klares "Nein" zu Erdogans Despotismus in Sicht. Stattdessen wird ihm "Demokratie" unterstellt. Wenn es eines Beweises bedurfte, dass nicht Wahlen allein Eckpfeiler für Demokratie sind, dann haben wir ihn in der Türkei. Eine Militärdiktatur ist nicht erstrebenswert. Eine Diktatur mit dem Anstrich von Demokratie ist es ebenso wenig.
Griechenland hat gerade angekündigt, die geflohenen türkischen Soldaten ausliefern zu wollen. Was ihnen blüht werden wir sicherlich nicht in Live-Tickern zu sehen bekommen.
Was wir hingegen beobachten dürfen ist die fast einhellige Aufgabe von demokratischen Grundwerten und Menschenrechten im Namen von Flüchtlingsdeals, Wirtschaftsideen und zweifelhafter Ruhe vor dem Errichten einer islamisch geprägten Autokratie in der Türkei.
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