Die ersten Hochrechnungen sind da, die Mienen der Berichterstatter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens tragen offen Trauer zur Schau.Immer wieder wird die Frage wiederholt, wie das passieren konnte.Immer wieder wird suggeriert, das „Nein“ der Griechen sei ein „Nein“ zu Europa, dass es „den Griechen“ (sic) darum ging, nicht sparen zu wollen.

Das OXI jedoch ist kein Nein zu Europa. Es ist lediglich und ausschließlich ein Nein zu einer Austeritätspolitik, die schon lange nachweislich gescheitert ist.

Sie können einem Menschen, der nichts mehr hat und von einer wachsenden Schuldenlast erdrückt wird, nicht zum Sparen raten. Er hat einfach nichts mehr zu sparen.Man kann einem nackten Mann nicht in die Tasche greifen.

Was hier permanent unter den Tisch gekehrt wurde, und ja, hier muss man propagandistisches Vorgehen anprangern, ist die Tatsache, dass „Sparen“ in diesem Falle das Ausbluten der Ärmsten verlangte. Das ist die direkte Übersetzung der schönenden Begriffe "Reformen" und "Sparen", als gäbe es nocht etwas zu sparen: Rentenkürzungen, Kürzungen von Sozialleistungen, Kürzungen im Gesundheitssystem. Sie mögen es gelesen haben oder nicht, aber die Suizidraten sind gestiegen, die Zahlen derer, die sich eine angemessene Gesundheitsfürsorge nicht mehr leisten können sind gestiegen, die Säuglingssterblichkeitsrate ist gestiegen. DAS ist mit Sparen gemeint, wenn der Vorwurf fällt, die griechische Regierung wolle nicht sparen. Übersetzt ist dies der Vorwurf, die Regierung wolle Teile seiner Bevölkerung nicht der Austerität opfern.

Hier werden im Namen von „Reformen“, die den Namen nicht verdienen, Krankheit und Tod in Kauf genommen. Das mag polemisch klingen, doch manchmal übertrifft die Realität Polemik und Pathos noch.

Hier wird in Kauf genommen, dass ein Land in Friedenszeiten eine Rezession erlebt, die Kriegszeiten weit ähnlicher ist, als die ständig wiederholten Beteuerungen von Frieden und die hohlen Solidaritätsbekundungen eines angeblich vereinten Europas glauben machen wollen.

Ein „Ja" hätte die Zustimmung zu eben diesen „Reformen“ bedeutet, die freiwillige Übereignung der eigenen Souveränität und Integrität an die Finanzinteressen der Euro-Größen. Nicht zuletzt an die Interessen Deutschlands, das wie kein anderes Land von Europa profitiert hat und dessen Nötigung zur Austerität maßgeblich war für die Eskalation in  der Vergangenheit. Es hätte bedeutet, für diese Verelendung im Angesichte eines vereinten Europas noch selbst und alleinig verantwortlich gemacht zu werden. Natürlich tragen frühere Misswirtschaft und Korruption eine massive Mitschuld. Dennoch haben in den letzten Jahren politische Prozesse diesen Niedergang beschleunigt.

Ein „Ja“ hätte bedeutet, die Menschen des eigenen Landes im Zweifel zu opfern, nur um temporär Schulden begleichen zu können, die durch die europäische, einseitige Verteilung der Wirtschaftsmacht gepaart mit der Austeritätspolitik überhaupt erst so aus dem Ruder laufen könnte.

Keine Regierung, die sich als demokratische Regierung verstehen, sollte jemals ohne Referendum etwas Derartiges beschließen, nachdem die Wahlversprechen anders lauteten. Und kein Volk, das tatsächlich den Solidargedanken, der doch den Kern Europas ausmachen sollte, verinnerlicht hat, sollte jemals in diesem Sinne die Ärmsten und Schwächsten den finanziellen Interessen von Banken und Finanzsystemen opfern.

Das OXI ist ein „Ja“ zu Europa.

„Ja“ zu einem lebenswerten Europa, das die Schwächsten nicht abhängt, ihnen nicht die Existenzberechtigung raubt.Es ist das „Ja“ zu einem anderen Weg, auch wenn es hierzulande als Affront verstanden wird.

Wer seinen Weg als „alternativlos“ betrachtet, der kann nur verwundert sein, wenn ein Volk seine Stimme für Alternativen erhebt.

Und doch: Noch, und ich möchte dieses „noch“ betont sehen, liegt in dieser Wahl für alle Beteiligten eine große Chance. Eine Chance, einander entgegen zu kommen, eine Chance darauf, den Kurswechsel zu wagen und den sozialkonstruktivistischen Ansätzen wieder mehr Spielraum zu geben.

Die Chance, ein Europa der Bürger zu gestalten, anstatt wehrlos dabei zuzusehen, wie Europa zum freien Spielraum für Finanzinteressen wird, in dem Demokratie und Bürgerinteressen bestenfalls peripher eine Rolle spielen.Wenn die Ärmsten trotz drohender Existenznot und Verschlimmerung ihrer Situation es schaffen, den Mut für ein „Nein“ zu einem Europa der Finanzinteressen aufzubringen, warum schaffen wir nicht endlich dasselbe?

Das „OXI“ wird erst dann in einer Katastrophe münden, wenn wir zulassen, dass die neoliberalen Kräfte, anstatt nun endlich einzulenken, der bisherigen Politik folgend, billigend eine breite Verelendung Griechenlands in Kauf nehmen, nur um sich selber Recht zu geben.

Von mir aus hier ein Danke an die Griechen, die im Angesicht einer Wahl zwischen Pest und Cholera den Weg gewählt haben, der nicht nur ihnen selber Würde und Stolz erhält, sondern auch mir wie allen anderen Europäern, die ein anderes, ein sozialeres Europa wünschen, eine Stimme gegeben haben.

Lasst uns das Europa der Solidarität aufleben, ein Europa, das sich nicht den Interessen einer Minderheit beugt, sondern sich länderübergreifend als demokratischer Staatenbund versteht.

Auch hierzulande stünde uns „OXI“ gut zu Gesicht.

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