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Altersarmut
- 11,68 Euro. So hoch müsste der Mindestlohn sein, um nach 45 Jahren Arbeit bei einer Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden eine Rente zu erhalten, die oberhalb der Grundsicherung liegt. Diese Berechnung hat die Bundesregierung auf Anfrage der Linkspartei vorgelegt. Berechnungsgrundlage war die, ab Sommer geltende, gesetzliche Rente. Das Wissen um diese Rechenergebnisse hielt die Bundesregierung selbstverständlich nicht davon ab, sich auf der eigenen Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales selber über den grünen Klee zu loben:
„Stärkstes Rentenplus seit 23 Jahren- Altersbezüge steigen zum 1. Juli im Westen um 4,25 Prozent, im Osten um 5,95 Prozent“ ließ man dort am 21.03.2016 verlautbaren. Dass diese Steigerungen dennoch wenigstens bei der Hälfte aller zukünftigen Rentner nicht ankommen werden, ging trotz des lauten Eigenlobs der großen Koalition seit Tagen durch die Presse. Bis zu 50% der Menschen seien von Altersarmut bedroht hieß es von Welt bis FAZ. Schon heute gilt, dass gut die Hälfte der Beschäftigten Abstriche bei der Rente machen müssen.
Ein großer Faktor hier: Die Frühverrentung. Nicht selten unfreiwillig, da es mit zunehmendem Alter schwieriger wird, einen Job zu finden. Und auch von Seiten der Arbeitsagenturen wächst der Druck auf die älteren Arbeitnehmer, möglichst in Rente zu gehen bei längerfristiger Arbeitslosigkeit. Ausgemustert bereinigen die Alten die Statistiken, gelten nicht mehr als „arbeitslos“, sondern eben als Rentner. Und müssen dann, trotz jahrelanger Arbeit, die Rente auf Grundsicherungsniveau aufstocken lassen. Und dann ist da selbstverständlich noch die, von Politikern weitgehend ignorierte, Tatsache, dass körperlich anstrengende Arbeit nicht besser entlohnt wird und auch die Lebensarbeitszeit nicht geringer ist, als z.b. die Arbeit im Büro. Von Altenpflegern über Handwerker bis hin zu Fließbandarbeitern müssen Menschen mit Abstrichen in Rente gehen, weil die körperliche Belastung ihre Grenzen hat.
Das künstliche Drücken der Löhne ist nicht zuletzt versteckte Arbeitgebersubventionierung. Die Kosten für Arbeitskraft, die der Arbeitgeber nicht zahlen möchte (und in wenigen Fällen tatsächlich nicht zahlen kann), werden auf den Arbeitnehmer umgewälzt. Der finanziert mit seinen Steuern tatsächlich nicht nur ergänzend die Löhne, die der Arbeitgeber zahlen müsste (Aufstocken), sondern auch noch die eigene, kommende Armut. Schon das Konstrukt „Mindestlohn“, für das die SPD sich feiert, ist ein Hohn. Wer kann auch nur entfernt annehmen, die Tatsache, dass ein Kleinst-Friseursalon denselben Lohn zahlen muss, wie ein börsennotiertes Großunternehmen, hätte irgendetwas mit „Lohngerechtigkeit“ zu tun? Klug wäre gewesen, man hätte die Löhne an Unternehmensgewinne angepasst. Flexible Löhne belohnen gute Jobs und gute Arbeit, stärken den Mittelstand und entlasten, vor allem dann, wenn Großunternehmen Löhne zahlen müssen, von denen Mensch sich und seine Familie selbstständig ernähren kann, auch die Sozialkassen. (Und damit, wie so oft, erneut den Mittelstand). Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände verschlafen hier, Seite an Seite mit der SPD, die Notwendigkeit, dem kommenden Desaster entgegenzusteuern.
Ob tatsächlich irgendein Rentensystem Armut abfedern kann, die schließlich jeden zweiten treffen soll, ist mehr als fraglich.
Beinahe überhört wurde in diesem Jahr der alljährliche Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Seine mahnenden Analysen gingen in den Nachrichten über Terror unter. Er beleuchtet die spezifischen Risikogruppen derer, die von Armut bedroht sind, nennt Zahlen und Tendenzen und lohnt, gelesen zu werden.
Geschlechterspezifische Armut
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Angemahnt wie jedes Jahr und konstant ignoriert, oft gar schöngeredet:
Eines der größten Armutsrisiken in Deutschland ist noch immer das Leben als Alleinerziehende/r. Diese Form der Armut trifft vorrangig Frauen. 90% der Alleinerziehenden sind Mütter.
Zwei Millionen Kinder wachsen etwa in Einelternfamilien auf. Tendenz steigend. Auch das Risiko, mit diesem Lebensmodell in Einkommensarmut zu geraten, steigt. Waren es 2005 noch 39,3 % sind es 2014 41,9%. Die steigende Armut ist dahingehend eklatant, als dass dazu zu wissen gilt, dass die Erwerbstätigenquote unter Alleinerziehenden seit Jahren zunimmt. Übersetzt heißt das: Arbeit schützt nicht vor Armut. Am wenigsten die, die nebenbei ein Kind zu versorgen haben.
Gerade Frauen, unabhängig von Ausbildung und Werdegang, sind in diesen Situationen oft auf Mini- und Teilzeitjobs angewiesen, sind in der Zeit der Elternschaft oft über Jahre geringfügig beschäftigt und damit nicht nur in der bestehenden Situation akut von Armut bedroht, sondern dürfen zudem auch Rentenabschläge im Alter fürchten. Anstelle einer kurzfristigen „Mütterrenten“, angeschoben von der SPD, einem absurdes „Pro-Kind“-Modell gälte es, für Alleinerziehende in Mütter- oder Väterzeit zumindest die Rentenbeiträge aufzustocken, um im Alter nicht die zu bestrafen, die für den Nachwuchs sorgen, an dem später hängt, Renten- und Sozialsysteme aufrechtzuerhalten.
Dass diese geschlechterspezifische Armut nicht nur Frauen mit Kindern trifft, sondern auch vorrangig Frauen, wenn es um Auszeiten zur Pflege Angehöriger geht, lässt sich aufgrund der gebotenen Blog-Länge nur am Rande erwähnen, wird aber auch hier vor allem für Frauen zur massiven Belastung im Alter, wenn es um zukünftige Rentenzahlungen geht.
Kinderarmut
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2,7 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen derzeit in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, in Armut auf. Und immer noch hat die Politik keine dringenderen Bedürfnisse, als über die Definition von Armut zu streiten, anstatt ihr etwas entgegenzusetzen. (Auch hier tut sich die SPD wieder unschön hervor, wenn sie, wie Frau Nahles, Armut einfach wegdefinieren möchte. Ein Schlag ins Gesicht für alle Betroffenen). Mit Kinderarmut geht nicht selten die Chance auf Teilhabe verloren. Teilhabe an zukunftsprägenden Möglichkeiten, an Bildung, Ausbildung, auch Herausbildung von Interessen und Talenten in Kunst, Kultur, Sport, im Handwerk, um Umgang mit anderen. Kinderarmut bedeutet versperrte Lebenswege. Wer arm ist, bleibt arm lautet das Fazit der OECD. Wer in Armut aufwächst hat geringere Chancen, durch Bildung oder eigene Anstrengung seinen Status zu verbessern. Gerade Deutschland wird undurchlässiger, was seine Aufstiegsmöglichkeiten betrifft. Erfolg wird in zwei von drei Fällen vererbt, nicht erarbeitet. Heißt: Wer in seiner Kindheit Ausbildung, Fort- und Weiterbildung, Förderung zur Verfügung hat, dessen Aufstieg ist größtenteils gewährleistet. Wer hingegen Armut und mit ihr den psychischen Druck und Ausgrenzung erlebt, keinen Zugang zu Fort- und Weiterbildung, Nachhilfe, auch zu Vorbildern hat, dessen zukünftige Armut ist fast ebenso gesichert.
Krankheit und Armut
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Krankheit macht arm – Armut macht krank. Eine alte Weisheit, die sich auch heute immer wieder bewahrheitet. Dies gilt ganz sicher für physische Erkrankungen und für psychische nicht minder.
Wer in diese Gruppe fällt lebt mit ständigem Druck. Das Damoklesschwert der Altersarmut verfolgt die Erkrankten und erschwert den Gesundungsprozess ebenso wie die Angst vor Folgekosten und Konsequenzen aus der Erkrankung. Nicht minder massiv ist der Druck durch Ämter und Behörden, die den Krankheitsverlauf mit Argusaugen verfolgen, und kaum Raum zum Gesunden nach individuellen Möglichkeiten lassen. Auch hier sind Kinder wieder massiv benachteiligt. Wer bei erkrankten Eltern aufwächst trägt ein erhöhtes Risiko, ebenfalls zu erkranken. Wobei auch hier wieder die Multikausalität der Vererbung, des Erlernens aber auch der Armut beobachtet werden kann. Schon wer in Wohlstand erkrankt macht die Erfahrung, dass sich Freunde und Bekannte abwenden. Wer chronisch erkrankt erlebt nicht selten Exklusion und Mangel an Teilhabe als Dauerzustand, der nicht mehr durchbrochen werden kann. Für Erkrankte gilt zudem, dass die bürokratischen Hürden einer flexiblen Regelung zur erneuten Teilhabe am Arbeits- und Gesellschaftsleben entgegenstehen. Bestimmte Stundenzahlen sind erlaubt, nur bestimmte Arten der Arbeit, anstatt Raum für individuelle Gesundung und Selbsterprobung zu lassen
Migrationshintergrund und Armut
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Auch Menschen mit Migrationshintergrund sind in unserer Gesellschaft einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt. Wer Özcan heißt, der hat es vergleichsweise schwer, eine Stelle zu bekommen, selbst wenn er die gleichen Qualifikationen vorweist. Und auch auf dem Wohnungsmarkt wird die Diskriminierung offenbar. Außerdem erkennen Fachleute im Bildungssystem eine strukturelle Diskriminierung. Neben fehlerhaften Einschätzungen, basierend auf Namen und familiärem Hintergrund (die übrigens auch Kindern aus bildungsfernen Familien immer wieder begegnen, wenn „Kevin“ und „Jaqueline“ durch Lehrer, unbewusst selbstverständlich, bereits in Schubladen verortet werden. Hier haften Kinder für ihre Eltern.) Das Bildungssystem hat es immer noch nicht geschafft, Kindern mit Migrationshintergrund dieselben Bildungschancen einzuräumen und Leistungen anzugleichen.
So heißt es dann auch im Bericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes von den Autoren von Sergio Andrés Cortés Núñez und Kenan Küçük, die sich dem Thema „Armut von Migrantinnen und Migranten in Deutschland“ gewidmet haben:
„…2014 verließen immer noch mehr als doppelt so viele Ausländerinnen und Ausländer die Schule ohne Hauptschulabschluss wie Deutsche (11,9 % gegenüber 4,9 %). Obwohl diese Zahl von 2000 bis 2014 von 19,9 Prozent auf 11,9 Prozent zurückgegangen ist, bleibt die Kluft weiter bestehen.
Weiter haben im selben Jahr 34,8 Prozent aller deutschen Schülerinnen und Schüler die Schule mit allgemeiner Hochschulreife verlassen. Dagegen sind nur 15 Prozent der ausländischen Schülerinnen und Schüler berechtigt, sich für einen Studienplatz an einer Hochschule zu bewerben…“
Egal, ob man sich zu den „besorgten Bürgern“ zählt oder nicht: Jeder junge Mensch, der unser Bildungssystem durchläuft ist unsere Zukunft. Jeder Mensch, der auf Basis von Bildungsstrukturschwächen scheitert (und ja, Bildung ist Staatssache/Ländersache und nicht Privatangelegenheit) ist für dieses Land einer zu viel. Jeder schlecht ausgebildete Mensch ist ein Verlust an Potenzial.
Stigmatisierung und Folgen der Armut
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Alle oben genannten Bevölkerungsgruppen erwartet, so unterschiedlich sie auch von ihrer Herkunft her sein mögen, ein Schicksal. Während die Politik noch streitet, wie Armut zu definieren sei, spüren die Betroffenen ihre Folgen schon heute. Diese Armut ist keineswegs „relativ“ im Sinne von „in seiner Geltung eingeschränkt“, sondern lediglich „relativ“ im direkten Vergleich, der eben hinkt. Man kann Bangladesch ebenso wenig direkt mit Deutschland vergleichen, wie dies mit Afrika gelingt. Dass Armut hierzulande nicht mit Hungerbäuchen einhergeht, sondern vorrangig mit Hunger nach sozialer Wärme und Inklusion ändert nichts an der Not der Betroffenen. Es gibt mittlerweile neben dem paritätischen Wohlfahrtsverband, der jedes Jahr aufs Neue nicht müde wird, den Ärmsten eine Stimme zu geben, auch andere Berichte und gute Bücher, die Armut für die, denen die Idee deutscher Armut zu abstrakt ist, erfahrbar macht und ihnen den Begriff „Armut“ im Kontext reicher Industriestaaten näherbringen kann. Sehr ans Herz legen möchte ich da das Buch „Einfach abgehängt“ von Nadja Klinger und Jens König.
Wer arm ist, der bekommt hierzulande keinen farbigen Punkt auf die Stirn. Er bekommt, je nachdem, wie lange die Armut schon anhält, ein schlechtes Gebiss, abgetragene Kleidung, riecht nach billigem Deo oder Aftershave, kann sich den Friseur, der für das Gros der Leute selbstverständlich ist, nicht leisten. Auch wir „zeichnen“ unsere Armen, für alle bewusst oder unbewusst erkennbar. Wir gehen subtiler vor, wenn wir auf Tafeln verweisen, um uns ein wenig besser zu fühlen, vergessend, dass der Anspruch auf diese Basisversorgung in der Verfassung verankert ist und mitnichten eine „private Großzügigkeit“. Auch die Zahl der Obdachlosen wächst. Massiv hat man in den letzten Jahren Sozialbau abgebaut. Die Folgen davon werden gerade erst sichtbar. Gentrifizierung und das Verdrängen der ärmeren Schichten in Randbezirke sowie eine zunehmende Ghettoisierung werden uns noch eine ganze Weile beschäftigen. Wir erlauben uns immer noch, angesichts vermehrter Armut, diese als „relativ“ abzutun oder gar zu behaupten, diese existiere nicht. Herr Nuhr hat von der Bühne aus schon derartiges gepredigt um zu schließen mit der Idee, wir seien hierzulande „nur nicht dankbar genug“.
Nu(h)r: Wer ein Leben lang gearbeitet, Kinder erzogen, gepflegt hat um dann doch in Armut zu landen, wer nichts Schlimmeres getan hat, als beim Geburtenlotto die Niete zu ziehen, wer in zweiter Generation in einem Land geboren und aufgewachsen ist, das ihn noch immer nicht als „Deutschen“ anerkennen mag, wer krank wird, der wird schnell erfahren, dass „Dankbarkeit“ in einem reichen Land voller Überfluss, Lebensmittelentsorgung, Wohnungsprivatisierung und künstlichem Wohnungsleerstand, das willens ist, seine Bürger am gedeckten und überladenen Tisch darben zu lassen, nur schwerlich aufkommen mag.
Der breite Widerstand der nötig wäre, diese Schieflage aufzuheben, er gilt den „guten Patrioten“ dieser Tage lieber den „Fremden“. Die Angst vor der eigenen Existenznot müssen die ausbaden, die noch weniger haben. Dass die neue Armut hausgemacht ist, kein Resultat aus Überfremdung oder „zu vielen Menschen“, sondern die Entwicklung dahin schon einige Jahrzehnte zu verfolgen ist, ist diesen hehren Kämpfern für Land und Leute gleich. Dass es die eigenen Leute, oft ebenfalls „gute Patrioten“ sind, die der neuen Armut Vorschub leisten, ebenfalls. Künstlich niedrig gehaltene Löhne, die schon von namhaften Ökonomen kritisiert wurden, Senkung der Grundsicherung, Reduktion der Rentenleistungen, versteckte Subventionen für Arbeitgeber zulasten der Arbeitnehmerschaft, Unterwanderung des Streikrechtes, Unterwanderung des Rechtes, Gewerkschaften zu bilden (auch durch Leiharbeit), das Zulassen von Sub-Unternehmen zur Arbeitnehmerrechteunterwanderung – Dies alles und ein vielfaches mehr ist auf dem Mist deutscher Politik und deutscher Industrie gewachsen. Eine Erkenntnis, die ganz offensichtlich über den Horizont einiger „Patrioten“ hinausgeht.
Der Kampf um die Überreste der „sozialen Marktwirtschaft“ und des „Sozialstaates“ ist in vollem Gange. Verlierer sind, wie so oft, die Schwächsten der Gesellschaft:
Alte, Kranke, Kinder, Frauen, vermeintlich Fremde, Menschen ohne Anschluss.
Die Armut ist angekommen in Deutschland und es sieht nicht so aus, als plane man eine "Rückführung" hin zum Sozialstaatsversprechen der Verfassung
Der komplette Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes findet sich hier:
http://www.der-paritaetische.de/armutsbericht/download-armutsbericht/