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So viel zivilen Ungehorsam wünschte man sich öfter:

Als die Polizei einen 20-jährigen Afghanen aus einer Berufsschule in Nürnberg abholen will, um ihn in Abschiebegewahrsam zu nehmen, organisieren seine Mitschüler spontan eine Sitzblockade, um dies zu verhindern. Innerhalb kürzester Zeit schließen sich diesem Protest 300 Schüler an. Trotz dieses beeindruckenden Ausdrucks von Solidarität lassen die Beamten nicht ab. Obwohl das Ausmaß des Widerstands aufzeigt, wie sehr der junge Mann in Ausbildung dort integriert, zur Kenntnis genommen und geschätzt wurde: Der Amtsschimmel kennt kein Pardon.

Der junge Mann soll zurück nach Afghanistan, in dessen Hauptstadt noch am selben Tag ein Anschlag 80 Menschen das Leben kosten und die Abschiebung verzögern wird. Eine Autobombe explodiert in der, für afghanische Verhältnisse gut gesicherten, Hauptstadt Kabul inmitten des Diplomatenviertels und zeigte einmal mehr, was von Aussagen, Afghanistan sei ein sicheres Herkunftsland, zu halten ist.

Der Widerstand der Schüler eskaliert. Der Staat und seine Vertreter nehmen es im Zweifel mit Hundertschaften unbewaffneter, kurzbehoster junger Männer und Frauen auf, wenn es um die Umsetzung von „Recht“ geht, das nur durch die Umdeutung eben dieses Rechts zu Recht wurde.

Klingt kompliziert?

Ist es nicht. Es reicht, ein Land, aus dem alleine bis Ende März dieses Jahres 38.000 Menschen geflohen sind, zum „sicheren Herkunftsland“ erklären. Und da wir im Bereich der Rechtsdeuterei sind, mal zu Wahlkampfzwecken, mal zum Eigennutz, lohnt die tiefe Einsicht des Innenministers de Maizière:

Zivilisten seien in Afghanistan nicht Ziel, sondern nur Opfer von Anschlägen. So rechtfertigt de Maizière Abschiebungen... (Abschiebung) sei in „kleinem Umfang“ vertretbar. Dies gelte unter anderem für den Norden des Landes. „Auch in Kabul kann man nicht sagen, dass dort insgesamt die Lage so unsicher ist, dass man die Leute da nicht hinschicken könnte“, argumentierte der Minister.

Übersetzt heißt das: Solange Zivilisten in Afghanistan nicht gezielt sondern nur versehentlich getötet werden, ist Afghanistan sicher. Zumindest für die, die ebenso versehentlich nicht getötet werden.

Ein kleiner Überblick zu Afghanistan:

Die humanitäre Lage verschlechtert sich immer weiter. Durch die anhaltenden Kämpfe zwischen Regierungstruppen und radikal-islamischen Milizen könnten die Bedürftigen nicht mit lebenswichtigen Gütern versorgt werden. Dazu gehören Lebensmittel, Wasser, Unterkünfte und Medikamente. Amnesty International nennt die Abschiebungen „unvertretbar“. (Quelle)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist so unberechenbar, dass auch der UNHCR eine Unterscheidung von »sicheren« und »unsicheren« Gebieten ablehnt. Wegen des bewaffneten Konflikts hat sich die Zahl der Binnenvertriebenen in den vergangenen drei Jahren fast verdoppelt und liegt bei 1,4 Millionen. Seit Anfang des Jahres mussten erneut mehr als 100.000 Menschen ihre Häuser verlassen (Stand 21.5.2017).

Auch die NATO plant, den Militäreinsatz aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage wieder deutlich zu verstärken. Weder staatliche noch internationale Akteure sind in der Lage, sich selbst oder abgeschobene Flüchtlinge zu schützen.

Im Februar 2016 hat die UN-Unterstützungsmission für Afghanistan (UNAMA) ihren Jahresbericht veröffentlicht. Demnach hat die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan Rekordniveau erreicht. 2015 gab es die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009. Insgesamt verzeichnet der Bericht 11.002 zivile Opfer, davon 3.545 Todesopfer und 7.457 Verletzte. Insgesamt seien von Anfang 2009 bis Ende 2015 genau 58.736 zivile Opfer zu beklagen, darunter 21.323 Todesopfer und 37.413 Verletzte. Besonders Schutzbedürftige seien immer öfter Opfer von Attacken, 2015 stieg die Zahl der weiblichen Opfer um 37 % an und die der Kinder um 14 %. Spiegel Online berichtete am 18. April 2016 über einen gemeinsamen Bericht von UNICEF und UNAMA. Darin heißt es, im Jahr 2015 habe die UNO 132 Übergriffe gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet. 369 afghanische Schulen hätten wegen Drohungen, Einschüchterung und Gewalt ganz oder teilweise schließen müssen. Auch Angriffe auf Gesundheitshelfer*innen nehmen zu: Im selben Bericht von UNAMA und UNICEF finden sich Angaben über Angriffe auf Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Gesundheitseinrichtungen. Diese Angriffe hätten sich von 59 im Jahre 2014 auf 125 im Jahre 2015 gesteigert, zum Opfer gefallen seien ihnen 20 Gesundheitsmitarbeiter*innen, 43 seien verletzt worden und 66 entführt...“ (Quelle: Broschüre „Afghanistan: Kein sicheres Land für Flüchtlinge.“ Pro Asyl, 07.2016)

Das „sichere Herkunftsland“ Afghanistan betritt übrigens auch der Innenminister lieber in Schutzkleidung.

Der Protest in Nürnberg zeigt, dass nicht alle der Menschenrechtsverletzung, die in einer derzeitigen Abschiebung nach Afghanistan steckt, gleichgültig gegenüberstehen. Das darf erleichtern.

Auch Herr de Maizière übte schließlich Kritik – an der Organisation des Vorganges.

Wer erneut eine Übersetzung braucht: Man hätte den Jungen etwas weniger öffentlichkeitswirksam und zu unbestimmter Uhrzeit, um Protest unmöglich zu machen, in Abschiebehaft verbringen müssen.

Zynisch.

Zynisch auch:

Während man in Deutschland noch debattiert und protestiert, scheint ein Großteil der Österreicher bereits die Segel gestrichen zu haben.

Dort wurden, noch am Tag des Anschlages, 17 Asylbewerber nach Afghanistan geflogen mit dem Hinweis, die Reiswarnungen gälten nur für Österreicher.

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