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Seit Jahren wächst die Armut in Europa. Trauriger Spitzenreiter ist Rumänien mit einer Armutsgefährdungsquote von 25,4 Prozent. Die geringste Armutsquote weist derzeit die Tschechische Republik mit 9,7 Prozent auf. (Ein Resultat auch der Berechnung des Armutsfaktors mithilfe des Medianeinkommens) Doch auch hier steigt das Armutsrisiko und mit ihm die Angst vor Armut. Und auch hier sind die Gründe im Prinzip dieselben, wie überall in Europa.
Tschechische Republik
Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes in Tschechien berichtet im Deutschlandfunk:
„... „Es ist leider wahr. Die Zahl armer Menschen steigt bei uns von Jahr zu Jahr. Wir können die Nachfrage kaum befriedigen. Das ist eine direkte Folge einer schlechten Sozialpolitik und der drastischen Sparmaßnahmen“
Arm in Tschechien ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohns zur Verfügung hat. Vor allem in den großen Städten kommt man mit diesen umgerechnet rund 580 Euro kaum über die Runden. Hinzu kommt eine Politik, die mit drastischen Sparmaßnahmen versucht, das öffentliche Defizit zu verringern, kritisiert der Soziologe Martin Potutschek:
„Sieben Jahre lang hat die konservative Regierung überall gekürzt und gleichzeitig die Steuern deutlich erhöht. Die Sozialleistungen sind mittlerweile auf ein Minimum beschränkt. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit durch die Wirtschaftskrise gestiegen. Ganz normale Menschen, denen es vor zehn Jahren noch gut ging, sind deshalb jetzt an der Grenze zur Armut oder darunter“... „
Der restriktive Sparkurs und die Austeritätspolitik, durchgesetzt von Konservativen wie von Sozialdemokraten, von Linken wie von Rechten, sie haben Europa im Würgegriff. Selbst in Ländern mit wachsendem Bruttoinlandsprodukt wie Deutschland wächst die Armut zusehends. Auch in Großbritannien (Noch-EU-Land) wurde in den letzten Jahren im Bereich der Sozialleistungen gekürzt, trotz Mehreinnahmen und wachsendem Bruttoinlandsproduktes.
Frankreich
Gleiches gilt für Frankreich. Dort versuchte die „Nuit Debout“ - Bewegung seit Monaten verzweifelt, Arbeitsmarktreformen zu verhindern, die nach deutschem Vorbild die Aufweichung von Arbeitnehmerrechten vorsehen. Eine Ohrfeige für Hollande, einst angetreten als Hoffnungsträger der Linken, mittlerweile gehasst für Sparkurs und Reformen.
„Nicht nur die deutschen EU-Partner, auch die meisten Ökonomen im eigenen Land legen dem französischen Staatschef neoliberale Strukturreformen als Ausweg ans Herz. Doch bereits jetzt droht die soziale Lage in Frankreich explosiv zu werden. Nur die Errungenschaften des Sozialmodells haben den Zusammenhalt bisher noch garantiert.
Einen scharfen Kurswechsel nach links und eine Abkehr von der „Austeritätspolitik“ fordern im Gegenteil die CGT, der bedeutendste Gewerkschaftsbund, und die Vertreter der radikalen Linken, allen voran die Linksfront aus Linkspartei und Kommunisten. Sie möchte an diesem Sonntag mit einer Kundgebung gegen das „Spardiktat“ Hollande lautstark daran erinnern, mit welchen Stimmen gewählt worden ist und auf wen er hören soll." (Quelle)
In diesen beiden Haltungen zeigt sich das ganze Dilemma des europäischen Spardiktats. Zwar sorgen die, trotz zunehmenden Wirtschaftswachstums, künstlich niedrig gehaltenen Lohnkosten, die Einschnitte in soziale Sicherheiten und das einhellige Aushebeln des Solidarprinzips für kurzfristige Zugewinne, können aber über den Anstieg der Prekarisierung und der langfristig drohenden sozialen Unruhen und Spaltungen nicht hinwegtäuschen.
Rumänien
Rumänien gilt als „Armenhaus Europas“. Zwar liegt die Arbeitslosenquote mit 6,4% im unteren Drittel der europäischen Statistik, jedoch sind die Löhne, gemessen an den Lebenshaltungskosten, weit niedriger als der EU-Durchschnitt.
Laut Victoria Stoiciu von der Friederich-Ebert-Stiftung in Rumänien erreichen die Gehälter nur 10% des EU-Durchschnittseinkommens, die Lebenshaltungskosten jedoch 70%:
„Warum sind wir weiter arm? Ich glaube, das ist eine Mischung von Faktoren: Einerseits haben wir das historische Erbe – eine Diskrepanz, die wir zu reduzieren versuchen. Andererseits glaube ich, dass wir politische Maßnahmen haben, von denen behauptet wird, dass sie die Armut bekämpfen wollen, aber sie tun es nicht. Die Finanzierung für Sozialschutz ist, als Anteil des BIP die Kleinste in der EU. Armut kann aber durch Umverteilungsmaßnahmen reduziert werden, so wie im Westen. Unsere Maßnahmen sind schlecht durchdacht und unterfinanziert. Es gibt noch einen Aspekt der Armut in Rumänien: Es gibt Leute, die arbeiten und immer noch arm sind. Wir haben den höchsten Anteil in der EU bei dem, was man „working poor“ nennt. Da geht es um 20 Prozent, zweimal so groß wie in Bulgarien. ... Nach den 90er Jahren bemerken wir ein Wachstum der Ungleichheit. Dabei müssen wir die soziale Mobilität betrachten, also die Chancen eines Kindes, einen besseren sozialen und wirtschaftlichen Stand als seine Eltern zu haben. Die Mobilität war viel größer während des Kommunismus... Aber nicht der Übergang zur Demokratie war die Ursache, sondern der Übergang zum Kapitalismus, zur Marktwirtschaft und Demokratie. Ich will nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass Demokratie schlimm ist und die soziale Mobilität verschwindet. Demokratie ist ein Ziel, nach dem wir streben müssen. Um das Ziel zu erreichen, müssen wir aber einiges wieder gutmachen – auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene. Die Mobilität ist nicht wegen der Demokratie verschwunden, sondern wegen des Verfalls des früheren Wirtschaftssystems, der Deindustrialisierung. Die Chancen der meisten Menschen, Zugang zu Arbeitsstellen, Ressourcen zu haben, wurden kleiner. Das beeinflusst die soziale Mobilität. “
Die Quelle, ein Interview mit Frau Stoiciu zum Thema „Wie arm ist Rumänien eigentlich?“ lohnt, in Gänze gelesen zu werden.
Auch das Thema Armutsmigration, hierzulande nur naserümpfend und mit viel populistischer Hetze durch Politiker wie Horst Seehofer aufgegriffen, ohne Hintergründe und Ursachen zu benennen, wird in Teilen beleuchtet:
„Migration spielt eine Rolle in der Reduzierung der Armut. Das Geld, das die Rumänen nach Hause schicken, rangierte auf dem zweiten Platz als Kapitaleinsatz nach ausländischen Direktinvestitionen. Nach der Krise ist die Situation umgekehrt, weil sich die ausländischen Investitionen verringert haben...Ihre Motivation (der Auswanderer) ist natürlich ein größeres Einkommen. Kurzfristig sind die Auswirkungen positiv, aber langfristig negativ. Es ist ein Kapitalverlust: Wenn diese Leute zu Hause blieben und sich auf dem rumänischen Arbeitsmarkt integrieren würden, dann würde das Land viel gewinnen...
Es gibt eine Nationalstrategie gegen Armut, die im April dieses Jahres gebilligt wurde. Es mangelt aber nicht an Strategien, sondern an deren Umsetzung. Es gibt Strategien für die Jugend, für die Besetzung der Arbeitsstellen, für soziale Inklusion, für die Roma-Minderheit, aber von Strategien zur Verwirklichung ist ein sehr langer Weg. Das hat auch mit den Fähigkeiten der Institutionen zu tun."
Wieder sind wir also bei unserer Frage nach Armut im EU-Raum bei Verteilungsproblematiken angelangt. Bei Mangel an Teilhabe, wenn es um Bildung, Ressourcen, Aufstiegschancen und Arbeitsplätze geht. Wieder kristallisiert sich heraus, was selbst im reichen Deutschland ein massives Problem darstellt: Wer arm ist, bleibt arm. Wohlstand vererbt sich. Die staatlichen Maßnahmen zum Ausgleich dieser Schieflage werden zurückgefahren, anstatt sie auszubauen, und verschärfen die Armutsproblematik.
Und der Rest?
Über die restriktiven Sparmaßnahmen in Griechenland und das Resultat habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben. Die Ergebnisse ähneln sich auch hier. Auch Armut in Deutschland, dem EU-Gewinner schlechthin habe ich in der Vergangenheit sehr ausführich berichtet und Verweise gerne auf ältere Artikel.
Das Problem wachsender europäischer Armut, von Deutschland über Österreich, von Rumänien über die Tschechische Republik, von Großbritannien über Frankreich, ist das Ergebnis langjähriger politischer Prozesse, einer Wirtschaftskrise, die niemand „Systemkrise“ nennen mag, obwohl eine Problematik, die beinahe alle wirtschaftlich ähnlich strukturierten, voneinander unabhängigen, Staaten betrifft, durchaus Züge aufweist, die diese Frage relevant machen dürfte. (Ähnliche Schwierigkeiten treffen z.b. nicht nur die EU, sondern auch die USA.)
Wo bleibt er denn nun, mein Sündenbock?
Nun ist Ihnen möglicherweise aufgefallen, dass ich der Ankündigung meines Titels, Armut und Einwanderung ganzer „Flüchtlingsströme“ (sic) miteinander in Verbindung bringen zu wollen, gar nicht weiter nachgekommen bin.
Das liegt, populistischer Schreihälse und Bio-Deutscher und Bio-Österreicher (um nur zwei zu nennen) zum Trotze daran, dass vermehrte Einwanderung zwar, einem Katalysator gleich, Probleme verschärft und in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat, jedoch nicht ursächlich ist für Armut oder gar die Zuspitzung der Sachverhalte, die man schon vorher beobachten konnte. Zudem ist das plötzlich aufkeimende Interesse gewisser politischer Gruppierungen an Obdachlosen und Armen wohl eher der Idee geschuldet, man könnte so zwei Probleme auf einmal lösen:
Den Flüchtling zum Sündenbock machen, um Ressentiments nach eigenem Gutdünken zu schüren und das eigene Versagen und Schweigen der letzten Jahre in Sachen Armutsbekämpfung und den Mangel an Benennung eigener politischer Versäumnisse zu kaschieren.
Der Obdachlose, der nur von Interesse ist, wenn man in seinem Namen auf Flüchtlingsunterkünfte zeigen kann, nicht aber dann, wenn man die eigene Wohnungsmarktpolitik auf den Prüfstand stellen müsste, ist in doppelter Hinsicht arm dran, denn eine restriktivere Asylpolitik und das Massensterben im Mittelmeer hat noch keinen Obdachlosen wieder mit einer Wohnung versorgt oder einen Arbeitslosen in Lohn und Brot gebracht.
Wachsende Armut in Europa ist das Ergebnis multikausaler Vorgänge, politischer Entscheidungen, ökonomischer Entwicklungen, Zuspitzung einer Verteilungsungleichheit.
Sie ist nicht „Schuld“ der Flüchtlinge und schon gar nicht ausschließlich auf zunehmende Migration zurückzuführen.
Nur Populisten, Demagogen, Menschen, die aus Eigeninteressen die Mehrheitsmeinung zu ihren Gunsten manipulieren wollen kommen auf den Gedanken, eine komplexe Problematik dieser Art in diesem Ausmaß zu simplifizieren.
Armut in Europa, vorrangig Armut in den ökonomischen Hochburgen Europas, ist hausgemacht, für neoliberale Ideen billigend in Kauf genommen worden. Wer den vergifteten Köder „Sündenbock Flüchtling“ dennoch frisst und neben Aufgabe der Menschenrechtsidee dabei auch noch in Kauf nimmt, die vielfältigen Ursachen zu verschleiern, die es zu benennen und zu bewältigen gälte, macht es sich nicht nur zu einfach, er festigt auch den eingeschlagenen Kurs.